Manchmal ist schon der erste Werbespot eine Prophezeiung: Das tragische Karriere-Ende des Ford Scorpio zum Beispiel beginnt im Herbst 1994 unter Wasser. Heringe schwimmen durchs Bild, überall Heringe, ganze Schwärme – und dann ein einsamer Goldfisch. Schnitt. Und eine Stimme aus dem Off: "Der neue Ford Scorpio. Einer wie keiner." Das war wohl ernst gemeint wie manches, was mit der Entstehung des letzten Kölner Topmodells zusammenhängt. Die Designer des Scorpio etwa waren stolz, "auf die Überbetonung der Klassensymbolik" verzichtet zu haben. Deshalb durften sie den silbrigen Scorpio-Schriftzug am Heck weglassen, weil ja sowieso jeder erkennen würde, was da vor ihm herfährt.

Goldene Granada-Zeiten: Ford Granada 3.0 Mk I

Ford Scorpio 2.3 Ghia
Beim Scorpio hat Ford vieles falsch gemacht: Der Kombi kam viel zu spät, die letzte Modellpflege fiel bei deutschen Käufern durch.
Willkommen in der Geschichte des deutschen Edsel – auch wenn die Szene bisher nicht würdigt, welche historische Bedeutung der 95er Scorpio hat. Deshalb steht das skurrilste deutsche Auto der 90er-Jahre noch immer ganz hinten beim Fähnchenhändler. Es ist wie früher beim Granada: Als es den noch überall billig gab, suchten alle nach rostfreien Mercedes/8. Und zerflossen vor Selbstmitleid, als der Granni später Kult wurde. Der Glupschaugen-Scorpio hat auch das Zeug dazu, immerhin ist er die letzte klassische Ford-Limousine mit Längsmotor und Heckantrieb. Mit ihm starb 1998 eine Modellfamilie, die sich seit dem Barock-Taunus von 1957 in deutschen Mittelstands-Wohnlagen festgesetzt hatte.
Ford Scorpio 2.3 Ghia
Was für ein Heck! Das durchgehende Leuchtenband im Las-Vegas-Stil lässt den Scorpio aussehen wie einen 70er-Ami.
Als Nachfolger sollte der Lincoln LS zu uns kommen, aber dann musste es in letzter Minute der brave Mondeo mit V6-Motor richten. Einer wie keiner, das passt immer noch zu ihm. Keine andere Marke ließ ihr Topmodell mit diesem irren Marty-Feldman-Blick durch die Gegend glasen. Keine traute sich seit dem Scorpio ein ähnliches Karpfenmaul, ein durchgehendes Heckleuchtenband im Las-Vegas-Stil oder ein Interieur in vergleichbarem Plüschbarock. Und nur bei Ford waren sie mutig genug, das alles auch noch zu mixen. Dass der Stilbrecher schnell alterte, kann uns nur recht sein. Heute sieht so ein Scorpio aus, als fehlten auf der Hutablage nur noch die 70er-Jahre-Kugelboxen. Eine Modefarbe wie Aubergine oder Dunkelrotmetallic verstärkt die nostalgische Wirkung ebenso wie Plastik-Raddeckel, die auch beim Topmodell serienmäßig waren.
Ein Muss: die Ghia-Ausstattung. Sie umfasst gemaserte Velourspolster und Plastikholz, das bei genauem Hinsehen die Rasterpunkte erkennen lässt. Die Pointe dabei: So ein Scorpio mag absurd aussehen, aber er fährt gar nicht schlecht. Selbst als Vierzylinder ist er ein talentierter Langstrecken-Cruiser mit sanftem Fahrwerk, Lounge-Chair-Sesseln und einem Motorgeräusch, das bei Autobahn-Tempo der Fahrtwind übertönt. "Klasse, wie Ford den 2.3er ruhig gestellt hat", lobte AUTO BILD im Sommer 1996 und versicherte, dass der neue 16-Ventiler mit seinen beiden oben liegenden Nockenwellen "genug Dampf in allen Lagen" sicherstelle. Und alles wohlfeil für nur 48.010 D-Mark.

Platz wie in einer S-Klasse

Nur etwa 75.000 Käufer wollten das von 1995 bis 1998 wissen. Meist griffen reife Herrschaften zu, die ihre Mutprobe schon mit dem Badewannen-17M von 1960 abgelegt hatten. Oft entschieden sie sich für die Prunksitzung mit allen Extras: Klimaautomatik, Parktronic, Soundsystem mit CD-Player und beheizte Raffledersessel versüßen dann das Leben mit dem großen Ford. Wer hinten sitzt, kann außerdem die Beine übereinanderschlagen, als wäre es eine S-Klasse und nicht der Kölner König des Kitschs. Als Klassiker kann er endlich ein ganz Großer sein. Auch das haben sie bei Ford schon 1995 geahnt, AUTO BILD druckte damals die visionären Worte des Pressesprechers: "Das ist ein Sammlerstück, das man sich in die Garage stellen sollte." Doch zwischendurch ist auch fahren sehr okay.

Historie

Ford Scorpio
1985 erschien der erste Scorpio als Nachfolger des Granada. Besonderheiten: ABS in Serie, ausschließlich als Fließheck lieferbar.
April 1985: Debüt des neuen Scorpio auf dem Genfer Salon, Besonderheit: große Heckklappe, ABS ohne Aufpreis. Zur IAA 85 erscheint der Scorpio 4x4, 1986 kommt die Diesel-Version mit Motor von Peugeot. Januar 1990: Premiere des Stufenheck-Scorpio mit vier Türen, sein Preis entspricht der Schrägheck-Version, die weiterhin im Programm bleibt. 1991: Im Frühjahr kommt der Scorpio Turnier (mit serienmäßiger Niveauregulierung), außerdem ein Topmodell mit 2,9-Liter-V6, Cosworth-24V-Kopf und 195 PS. März 1992: kleine Modellpflege, unter anderem anderer Kühlergrill, weiße Blinker. Oktober 1994: Präsentation der letzten Scorpio-Serie ("Scorpio ’95") mit neuem Karosseriedesign und neuem Zweiliter-16V-Motor (136 PS), Verkaufsstart im Januar 1995. Schrägheck und Allrad sind nicht mehr lieferbar. Juli 1996: 2,3-Liter-Motor (147 PS) ersetzt Zweiliter-16V-Triebwerk. September 1997: letzte Retuschen – weniger Chrom, abgedunkelte Heckleuchten. Dezember 1998: Die Karriere des Scorpio endet nach rund 850.000 Exemplaren (davon circa 75.000 Scorpio '95), Ford verzichtet auf einen Nachfolger.

Technische Daten

Vierzylinder-Reihenmotor, vorn längs • vier Ventile pro Zylinder, zwei oben liegende Nockenwellen • Steuerkette • Hubraum 2295 ccm • Leistung 108 kW (147 PS) bei 5600/ min • max. Drehmoment 202 Nm bei 4500/min • Hinterradantrieb • Fünfgang-Schaltgetriebe oder Vierstufenautomatik (2850 D-Mark Aufpreis) • Länge/Breite/Höhe 4825/1760/ 1374 mm • Leergewicht 1580 kg • Zuladung 455 kg • Anhängelast 1850 kg • Tankinhalt 70 Liter • Kofferraumvolumen 465 Liter • 0–100 km/h 12,2 s • Spitze 204 km/h • Testverbrauch 11,3 Liter Super/100 km • Neupreis (1996, Limousine/Turnier) 48.010 D-Mark.

Plus/Minus

Ford Scorpio 2.3 Ghia
Der leise Vierzylinder mit 2,3 Litern und 147 PS ist die Top-Empfehlung. Problemlos, wirtschaftlich, ausreichend flott.
Ein gescheites Winterauto soll wenig kosten, strapazierfähig sein und im Eisregen auf der A7 so was wie Geborgenheit vermitteln – lauter Scorpio-Tugenden. Außerdem ist er komfortabel, geräumig und sieht skurril genug aus, um Youngtimer-Karriere zu machen. Das Ford-Topmodell war ab 1995 zwar viel besser verarbeitet als sein Vorgänger, Oberklasse-Qualität sieht indes anders aus: Auch der späte Scorpio neigt im Alter zum Rosten an Radläufen, Schwellern und Rahmenträgern. Außerdem kennen Ford-Spezialisten eine Reihe technischer Macken, z. B. durchgebrannte Zylinderkopfdichtungen (speziell bei 2.0-16V- und Turbodiesel-Motoren), Ölverlust an Motor und Getriebe, frühen Kupplungsverschleiß, ausgeschlagene Lenkgelenke und Vorderachs-Lagerbuchsen, poröse Bremsschläuche und defekte Kabelbäume. Überhaupt, die Elektronik: Auch der Ausfall von ABS-Steuergeräten, spinnende Zentralverriegelungen und streikende Wegfahrsperren kommen vor – also Vorsicht vor Scorpio-Grotten mit astronomischen Laufleistungen und/oder Wartungsstau.

Ersatzteile

Scorpio-Fahrer sind Profiteure der Abwrackprämie: Verwerter bieten zum Beispiel rostfreie Türen und Kotflügel ab 100 Euro an, ein Automatikgetriebe mit Garantie kostet um 500 Euro. Ford dünnt derweil das Neuteile-Angebot aus, liefert zum Beispiel keine Kabelbäume mehr.

Marktlage

Opas 50.000-Kilometer-Scorpio läuft schon in Osteuropa, gute Exemplare aus erster Hand werden allmählich knapp. Aber es gibt sie, und teuer ist auch ein Spitzen-Scorpio nicht: Der Test-Scorpio (2.3 Ghia aus erster Hand, EZ 1/97, 83.000 km) soll 3500 Euro VB kosten und gehört damit zu den hochpreisigen Exemplaren. Auch für 2000 Euro lässt sich ein gesunder Stufenheck-Scorpio finden, doch die Grenze zum Verbrauchtwagen ist in dieser Preisklasse fließend. Wenn’s nicht das krasse Glupschaugen- Modell sein soll: Der optisch blasse Vorgänger ist noch viel billiger.

Empfehlung

Der Ideal-Scorpio ist ein später Vierzylinder-Benziner mit Ghia-Ausstattung, Schaltgetriebe, fünfstelliger Laufleistung und lückenlosem Scheckheft. Wer ihn aufbrauchen will, sollte den Kombi mit seiner Riesen-Ladefläche nehmen, als kommendes Sammlerstück eignet sich jedoch die viel seltenere Limousine. Oder ein ganz frühes Schrägheck-Exemplar aus den 80ern. Nicht so toll: Sechszylinder (hoher Verbrauch), Diesel (laut und lahm), Automatik-Versionen (schalten träge), Basismodelle (nicht plüschig genug).

Von

Christian Steiger