"Vorsicht, die Kurbel kann zurückschlagen – und dir die Hand brechen, wenn die Zündung auf früh steht", warnt mich Julius Kruta, Historien-Experte bei Bugatti und mein Beifahrer bei der Mille Miglia. Ich schiebe den filigranen Hebel in der Mitte des Armaturenbretts nach oben, stelle mich breitbeinig vors Auto und versuche den Motor anzukurbeln. Ich brauche meine volle Kraft, um die acht Kolben von Hand in Bewegung zu setzen. Nach fünf schweißtreibenden Umdrehungen prasselt das Triebwerk plötzlich los wie ein wütender Hornissenschwarm. Julius und ich stehen am Start zur berühmtesten Oldtimer-Rallye der Welt in der Viale Venezia in Brescia. Der 35 ist eine brüllend laute Ikone der Automobilgeschichte, mit mehr als 2000 Siegen bis heute der erfolgreichste Rennwagen aller Zeiten.
Bugatti 35
Ab 160 rast der Wind brutal ins Cockpit. Das hält den Fahrer wach.
Bild: A. Emmerling
"Von rund 150 gebauten Exemplaren existieren heute noch rund 40", grinst Julius. Der wegen seines Werts von rund einer Million Euro oft als Replica nachgefälschte Typ 35 ist der Formel-1-Bolide des Jahres 1924. Viele technische Details wie die hohlgebohrte Vorderachse sind wahre Leichtbau-Kunstwerke. Ganze 750 Kilogramm wiegt der Achtzylinderrenner. Das niedrige Gewicht ist auch der Grund für die sensationelle Beschleunigung, die 1924 kein anderes Auto erreichte: In unglaublichen 6,5 Sekunden spurtet der 35 von null auf 100. Ebenso einzigartig sind die Alu-Räder mit ihren acht flachen Speichen, die ebenso wie der monolithische Motorblock auch als Art-déco-Skulpturen durchgehen würden. Die rollengelagerte Kurbelwelle ist nicht nur spezialgehärtet, sondern verfügt auch über liebevoll feinstgeschliffene Laufflächen. Julius fährt als Erster, ich setze mich links neben ihn. Das klappt nur, wenn ich meinen rechten Arm um ihn lege, sonst hat er keinen Platz zum Lenken. Festhalten kann ich mich an dem Lederband, das den Ersatzreifen hält.
Bugatti 35
Der Kopilot muss für Druck im Tank sorgen, denn der Bugatti hat keine Benzinpumpe.
Bild: A. Emmerling
Es schüttelt und vibriert, meine Armbanduhr macht sich selbstständig und fällt auf den öligen Metallboden. Als Kopilot muss ich für Druck im Tank sorgen. Denn der Bugatti hat keine Benzinpumpe. Stattdessen eine Handpumpe links im Armaturenbrett, mit der ich Luft in den Tank presse. Der Überdruck lässt den Sprit in die beiden Solex-Vergaser laufen. Zu wenig Druck lässt den Motor absterben, bei zu viel Druck kann schlimmstenfalls der Tank platzen. Druck ablassen kann ich mit einem kleinen Ventil links unten, was unbeabsichtigt auch mit dem Knie passieren kann, also drückt man das linke Bein während der Fahrt besser nach rechts. Nach hundert Kilometern ist das linke Bein eingeschlafen. Ich fülle noch Wasser nach, wir brauchen eine Flasche auf 100 Kilometer, der 35 hat keinen Elektrolüfter und fängt im Stau nach wenigen Minuten an zu kochen. Dann will er abgeschaltet, bis zum Stauende geschoben und wieder per Kurbel gestartet werden. Hat es der Fahrer leichter?

Runterschalten nur mit Zwischengas

Bugatti 35
Der Rucksack mit dem Bordwerkzeug sitzt sicher – auch bei Tempo 200.
Bild: A. Emmerling
In Sirmione tauschen wir die Plätze. Zum Einsteigen muss ich mich auf die Sitzpolster stellen und mich langsam in den hautengen Fußraum rutschen lassen. Die Bremse steht sehr hoch, das winzige Rollengaspedal dagegen tief – ideal, damit ich gleichzeitig bremsen und Gas geben kann. Ich muss vor dem Zurückschalten Zwischengas geben und versuchen, den Motor im Leerlauf möglichst exakt auf die Drehzahl des nächstkleineren Gangs zu bringen. Ansonsten kracht es im Vierganggetriebe. Das Schaltschema steht auf dem Kopf, erster und dritter Gang liegen hinten. Die vier Alu-Speichen des Lenkrads fühlen sich wackelig an, dennoch werden meine Lenkbefehle erstaunlich präzise umgesetzt. Im 35er-Bugatti gibt es in Fahrwerk, Lenkung und Getriebe keine Gummiteile. Es arbeitet Metall auf Metall, was Präzision und Vertrauen schafft.
Die linke Wade, die auf dem heißen Getriebedeckel aufliegt, ist beim Zwischenziel in Rom gut angegart, Muskelkater habe ich auch. Mein Rücken schmerzt, zu viele Schlaglöcher sind durch das dünne lederne Sitzkissen geknallt. Die blauen Flecken an meinem Körper kann ich kaum mehr zählen. Der Nachhall des brüllenden Achtzylinders klingelt in meinen Ohren. Meine Augen tränen von den rußigen Abgasen, als wir in Brescia nach 1600 erbarmungslosen Kilometern das Ziel erreichen. Wie sagte Ernest Hemingway: "Die Dinge erhalten ihren Wert erst durch die Anstrengung, derer sie bedürfen." Wie wahr.

Von

Bernd Wieland