Nichts geht mehr an dem Fähranleger, aber das scheint niemanden zu stören. Die Autofahrer sind ausgestiegen, sitzen im Gras und genießen die Stille am Ufer des Flusses. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören, und in der Ferne brummt ein Rasenmäher. Es ist 12.35 Uhr. Mittagspause in Neckargemünd. Wer wollte dem freundlichen Fährmann seine Auszeit absprechen, hier im idyllischen Odenwald fernab der hektischen Großstadt. Und was ist schon eine halbe Stunde Warterei in einer Zeitmaschine dieses Kalibers: V8-Motor, 6,9 Liter Hubraum, 286 PS, Hydropneumatik, ABS. Der Mercedes 450 SEL 6.9 spielte Mitte der 70er in einer eigenen Liga. Mit seiner Technik galt der Sechspunktneun als das beste Auto seiner Zeit – und ist bis heute der unbestritten fetteste, verschwenderischste deutsche Nachkriegs Pkw. Die Linienführung signalisierte aristokratische Abstammung, die doppelten Chromstoßstangen hielten das gemeine Volk auf Distanz. Ein Benz wie eine Burg, respekteinflößend, unnahbar. Und wegen seines astronomisch hohen Preises nahe zu uneinnehmbar.

Alter Autoadel auf der Burgenstraße

Burgenstraße Mercedes-Benz 450 SEL 6.9
Ein fürstliches Vergnügen ist eine Fahrt in der alten S-Klasse noch immer. Dunkelbraune Velourssessel und üppige Holzintarsien im Innenraum vermitteln Kaminzimmer-Atmosphäre. Wer hier Platz nimmt – aufrecht sitzend und den Stern im Blick –, schaut mitleidig herab auf die neuzeitliche Massenbewegung mit ihren armseligen Plastikstoßfängern und den ängstlich aufgerissenen Mäulern in fratzenhaft verzogenen Frontpartien. Dann doch lieber die Landschaft genießen. Alter Auto-Adel wie der Sechspunktneun fühlt sich besonders wohl auf der Burgenstraße. Die führt über fast 1000 Kilometer von Mannheim bis Prag, auf traumhaft schönen Straßen durchs Neckartal, entlang an Jagst und Tauber, durch die Fränkische Schweiz, den Frankenwald und das Fichtelgebirge. Burgen, Schlösser, Burgruinen und mittelalterliche Städtchen wie aus dem Bilderbuch säumen die Strecke.

Geschichten aus einer anderen Zeit

Burgenstraße Mercedes-Benz 450 SEL 6.9
Jahrhundertealte Gemäuer erzählen Geschichten aus vergangenen Epochen. Wie die von den treuen Weibern von Weinsberg: Nachdem König Konrad III. im Herbst 1140 mehrere Wochen lang Weinsberg belagert hatte, gaben die vom Hunger geplagten Städter auf. Da die Frauen nicht gekämpft hatten, sollten sie nach dem Willen des Königs gehen dürfen: "Die Weiber mögen abziehn, und jede kann so viel von ihrem Liebsten mitnehmen, wie sie tragen kann." Am nächsten Morgen öffnete sich das Tor der Festung und hervortraten – tief gebeugt unter der schweren Last – die Frauen. Sie hatten das Liebste gewählt und trugen ihre Ehemänner auf dem Rücken aus der Burg. "So war es nicht gemeint!", sagte der König. Aber er hielt Wort und ließ die Frauen ziehen.
Viele der Burgen befinden sich noch heute in privater Hand. Burg Guttenberg ist seit 559 Jahren im Besitz der Freiherren von Gemmingen, die sie in der 17. Generation bewohnen. Auf Schloss Langenburg residiert noch echter Hochadel, und wer sich hier beim Personal nach dem Hausherren erkundigt, bekommt womöglich zur Antwort: "Der Fürst ist bei der Queen." Während die einen mit dem Jetset zur "Royal Windsor Horse Show" auf die Insel reisen, geben sich andere Burgherren bürgerlich. Otto Unbehauen trägt weder "von" noch "zu" im Namen, dafür aber Arbeitskleidung am Körper. Der Besitzer von Burg Colmberg kommt gerade vom Bäumepflanzen. 1964 hat er die baufällige Anlage übernommen und jahrelang renoviert. Heute betreibt er ein Hotel. Zum Spaß fährt Unbehauen einen Ford A aus dem Jahr 1927. "Mit meinen 38 PS bin ich schon diverse Alpenpässe hoch", sagt er, startet den Motor und knattert den Burghügel hinab in den Ort. An den höllischen Lärm haben sich die Leute längst gewöhnt. Auch zur Mittagszeit.

Von

Markus Heimbach