Wie King Kong als Uhrmachermeister? Dieser Vergleich wäre sicherlich stark übertrieben. Und außerdem wenig charmant. Aber er schießt fast unweigerlich demjenigen in den Sinn, der die Entstehung dieser winzigen Kunstwerke verfolgt. Unglaublich, mit welcher Präzision die riesigen Hände die mikroskopischen Klebelaschen freischneiden, falten und verkleben. Und wie authentisch das daumennagelgroße Modell des rundlich-knuffigen Fiat 500 schließlich dasteht. Kein Wunder, dass einem da die erwähnte Assoziation des Filmriesen als Feinstmechaniker in den Sinn kommt.
Der Super-Falter
"King Karton": Seit 1979 hat Gert Sommer 190 Modelle konstruiert.
Die riesigen Hände gehören Gert Sommer. Wie King Kong ist auch Gert Sommer eine Art König. King Karton sozusagen. Denn als Schöpfer von Modellautos aus dem Material, das unsereins so alltäglich wie achtlos als Verpackungsmüll entsorgt, belegt er den unwidersprochenen Spitzenplatz.
Limbach-Oberfrohna, Sachsen. Hier, am Fuße des Erzgebirges, liegt das kleine Königreich. Ein Einfamilienhaus, 1928 von seinem Großvater erbaut. Gert Sommer führt uns ins Wohnzimmer, wo sich unzählige Boxen stapeln – von der Mon-Chéri-Schachtel bis zum Schuhkarton. Aha, sein Baumateriallager? "Sieht so aus, ist es aber nicht", lacht der pensionierte Diplom-Bauingenieur. Und öffnet behutsam ein Gebinde nach dem anderen.Zum Vorschein kommen seine zerbrechlichen Karton-Juwelen. Vom DDR-Versehrtendreirad Duo über den Trabant 601 bis zum Knaus-Südwind-Wohnwagen. Vom Citroën-Wellblechkasten über den Land Rover mit Tropendach bis zum Desert-Storm-Hummer. Vom DHL-Sprinter über die Horch-Feuerwehr bis zum Minol-Tanklastzug. Schließlich stehen 190 Fahrzeuge verschiedenster Spezies auf dem Couchtisch. Allesamt made by Gert Sommer, von 1979 bis heute. Allesamt zum Erinnern, Schwärmen, Bewundern – kurz: zum Verlieben.
Der Super-Falter
Komplexe Form aus Karton: Das 1:120-Modell des Mercedes 170 V ist nur 35,7 Millimeter lang.
Die Keimzelle seiner Kleinkunst, erzählt der 61-Jährige und richtet den Zeigefinger abwärts, ist der nur knapp mannshohe Keller der "Sommer-Residenz" – gerade groß genug für Kohlen, Konserven, Krimskrams. Nicht aber für eine Modelleisenbahnanlage der klassischen Spurweite H0 (Maßstab 1:87), die er sich einst so sehnlich wünschte. Was Gert Sommer 1959 – als Siebenjähriger – stattdessen bekam, war eine Startpackung der nächst kleineren und damit kellerkompatiblen Normgröße. Die Rede ist von der "Spur der Mitte" namens TT, Maßstab 1:120 – kompakter als die Dimension H0, aber längst nicht so zwergenhaft wie die spätere 1:160er-Miniaturspur N.

Mekka für Modellautofans: das Siku-Wiking-Museum

Erst ein Jahr zuvor, 1958, hatte das Spielzeugwerk Zeuke & Wegwerth in Berlin-Köpenick (ab 1971: VEB Berliner TT-Bahnen; seit 1993: Tillig) seine Bahn in diesem Maßstab aufgelegt. Mit viel höherer Detailgenauigkeit, betont Gert Sommer, als das westdeutsche Vorbild der Marke Rokal – die Gießerei der frühen Volkswagen-Vergaser hatte sich schon 1948 mit der Spur TT ("Table Top": Tischplatte) etabliert.
Liebherr Kran Modellauto Faltmodell
Sommers Spitzenmodell: ein 120-Tonnen-Kran von Liebherr in 1:120, funktionsfähig mit Dreistufen-Teleskop-Ausleger und vier Stützen.
Was Klein Gert damals zum ganz großen Glück fehlt, ist die wichtigste Staffage einer elektrischen Eisenbahn: "Bahnhöfe gab's, Häuser – aber kaum Modellautos in 1:120. Und die wenigen, die es gab, wurden mit dem wachsenden Verschleiß der Gussformen immer mieser." Deshalb beginnt Gert Sommer in den 70er-Jahren, seine eigenen Automodelle zu kreieren. 1979 kommt sein Sohn Matthias zur Welt, 1982 dessen Brüderchen Michael. Womit sich für Vater Gert ein weiterer wesentlicher Mangel der DDR-Planwirtschaft offenbart: Außer Spur-TT-Standmodellen fehlen jetzt auch noch roll- und belastbare Spielzeugautos.
Seine Reaktion auf die leeren Regale: die Eigenproduktion der Miniaturen. In 1:120 für die Modellbahnanlage im Keller, in 1:87 fürs Kinderzimmer – letztere aus Holz und Pappe, mit rotierenden Rädern aus Gipsguss, teils auch mit weiteren Funktionen. Und Erstere aus Papier, oder? Aus Karton, präzisiert der Bastelbogenbauer: "Von Papier redet man bis zu 150 Gramm pro Quadratmeter Flächengewicht, von Pappe ab 600 Gramm. Mein Material liegt bei 160 bis 250 Gramm, ist somit Karton." 
Seine kindliche Begeisterung für das Hobby ist seit 1979 ungebrochen, sagt Gert Sommer. Verändert hat sich nur die Präzision – 2013 entstehen die Schnittbögen seiner faszinierenden Klebenswerke längst am Computer. Wie der für den süßen Fiat 500, der derzeit noch ein Handmuster-Prototyp ist. Könnte dieses Kleinod sprechen, würde es wohl sagen: Ich war mal eine Zigarettenschachtel.

Von

Wolfgang Blaube