Der Trabi bricht durch die Mauer – das beliebte Fotomotiv an der East Side Gallery, einem der wenigen verbliebenen Mauer-Reste in Berlin, hat allegorischen Charakter. 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich Wissenschaftler in Ost und West mit der Rolle des Automobils im Sozialismus beschäftigt. Ihre Studien legen den Schluss nahe: Der eigentliche Todfeind von Marx & Engels war gar nicht der Kapitalist – es war der Autofahrer im eigenen Lande. Seine egoistischen Bedürfnisse nach Mobilität brachten nicht nur die Mangelwirtschaft der DDR und anderer Ostblockstaaten dauerhaft in Bedrängnis, sie waren auch Keimzelle des Widerstandes und der Abgrenzung. Die Auswirkungen auf die sozialistische Gesellschaft "waren in der Tat fatal", fasst es der Autohistoriker Kurt Möser aus Karlsruhe zusammen. Einerseits belastete der Versuch, Massenmotorisierung zu ermöglichen, die Planwirtschaft erheblich – andererseits erlaubte der Besitz eines Autos eine begrenzte Flucht aus dem Kollektiv, war also die einfachste Form des Widerstandes.

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Das Auto im Sozialismus: Wer einen Trabant besaß, pflegte ihn sorgfältig.
Ein Auto machte unabhängig und bedeutete ein gesellschaftliches Privileg. "Zugleich glitt man als Eigentümer tendenziell in die Illegalität ab", sagt Möser. Denn die Instandhaltung war nur möglich, wenn man Ersatzteile organisierte; sprich: über den Schwarzen Markt besorgte. "Autofahren im Ostblock bedeutete immer eine Hinwendung zur Subversivität", so Möser. Wer Auto fuhr, war sich der Schwachpunkte des Systems wohl bewusst und sabotierte es mit voller Absicht für sein ganz privates Ziel, durch die – eingemauerte – Welt zu fahren. Egoistisches Individuum versus sozialistisches Kollektiv. Auch das "Autobasteln", wie es in der DDR lange umgangssprachlich genannt wurde, war ambivalent.

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Das Auto im Sozialismus: Trabant auf der Hebebühne.
Einerseits musste man kleine Reparaturen selbst erledigen, wollte man nicht ewig auf einen Werkstatttermin warten oder die Mechaniker mit einer Gefälligkeit gefügig machen – andererseits genossen es die Menschen, nach Feierabend bei einem Bier in der Garage oder im Urlaub am Ostseestrand gemeinsam zu schrauben. Das simple Auswechseln einer Zündkerze am Trabi geriet so zum konspirativen Treffen, bei dem über alles gesprochen wurde. Das konnte dem System nicht gefallen. Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Mächtigen jenseits des Eisernen Vorhangs dieser Gefahr durchaus bewusst waren: Nikita Chruschtschow, von 1958 bis 1964 Regierungschef der Sowjetunion, wollte Privatautos ganz abschaffen. "Es existierten damals Pläne, Eigentum an Autos zu verbieten und im ganzen Land Mietwagen-Stationen einzurichten", berichtet Nordica Nettleton, die im Rahmen des Symposium "The Socialist Car" 2008 die Situation in der ehemaligen UdSSR schilderte.

Politikum, auch im Westen

Die Amerikanerin untersuchte speziell die Rolle, die das Auto in der Sowjetunion spielte. Offenbar eine sehr große, sonst hätte Chruschtschow nicht mit dem Gedanken gespielt, den Sozialismus 2.0 einzuführen; nach der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln als nächster Schritt das Verbot des eigenen Autos. Warum der Plan letztendlich fallen gelassen wurde, ist bisher nicht erforscht. Möglicherweise aus Sorge, die Umsetzung wäre auf zu großen Widerstand gestoßen? "Das Auto war immer ein Politikum", sagt Professor Möser. Automobilist und Staat, das seien immer Gegensätze gewesen: Hier die theoretisch unbegrenzte Freiheit – dort die Regulierung, die Einschränkung. "Wenn die Mobilität eingeschränkt wird, gerät der Bürger aus seiner Lethargie." Ein Beispiel sei die Ölkrise: Im Herbst 1973 sei in der Bundesrepublik sehr intensiv das Thema Tempolimit auf den Autobahnen diskutiert worden.

Schon das Fahrrad galt einst als "Freiheits-Maschine"

Das Auto im Sozialismus: Trabant in voller Fahrt.
Die Befürworter stießen auf heftigen Widerstand: "Gegner argumentierten: Wer das Auto regeln will, schadet der Demokratie – weil die Straße als einer der letzten Plätze verstanden wurde, an denen man eigentverantwortliches Handeln lernt." Auch dieses Verständnis ist nicht neu: Schon das Fahrrad sei zum Beispiel von den Arbeiter-Radfahrvereinen im Kaiserreich als "Freiheits-Maschine" verstanden worden. Kein Wunder, dass selbst der schäbigste Trabant, der älteste Lada zu sozialistischen Zeiten ein geliebtes und gepflegtes Familienmitglied war. "Von einem Freund im Auto abgeholt werden, das war gleichbedeutend mit einem Blumenstrauß oder einer Einladung ins Restaurant", referiert Corinna Kuhr-Korolev, die in Russland Frauen interviewte, die im Sozialismus ein Auto fuhren.

Teetablett und Heckflossen-Verlängerung als Protest

Individualismus drückte sich in der DDR auch darin aus, wie man das Auto individualisierte: So war es zum Beispiel beliebt, die angedeuteten Heckflossen des Trabant noch ein wenig zu verlängern. Wie diese Parodie auf Ami-Schlitten bei den Herrschenden ankam, ist bisher nicht erforscht. Ein anderer verbreiteter Tuning-Ansatz war es, Rückspiegel auf die vorderen Kotflügel zu schrauben. Breitreifen hatten dagegen nur die mit Westkontakten. Das Basteln wurde sogar gefördert: In der Bastelzeitschrift "Praktik" gab es Bauanleitungen, wie man zum Beispiel im Trabi ein Teetablett oder einen Halter für Parkgroschen installierte. Anders sein – die Flucht aus dem Kollektiv, die kleine Revolution fand in der Garage statt. Um aus dem sozialistischen möglichst schnell wieder ein ganz persönliches Auto zu machen, wurden auch gewagte Lackierungen durchgeführt, Nebelscheinwerfer oder Rallye-Spiegel montiert. Möser: "Dabei imitierte man oft Westautos, man versuchte sein Auto westlich aussehen zu lassen."

Zur Arbeit fuhren Bus & Bahn, der Wagen wurde geschont

Das Auto im Sozialismus: Mit dem Trabant in den Urlaub.
Auch in der Nutzung äußerte sich die Bedeutung, die dem fahrbaren Untersatz beigemessen wurde: "In der DDR war das Auto ein Freizeitgegenstand", hat Möser herausgefunden. So erklären sich die verhältnismäßig niedrigen Kilometerstände von Trabant & Co. Zur Arbeit sei man mit Bus, Bahn oder Fahrrad gefahren, das Auto wurde geschont, nur zu besonderen Anlässen genutzt und in seiner Funktion als Luxusgegenstand damit noch gestärkt. Ein Luxus, den die Arbeiter- und Bauern-Regime erst schufen: zu wenig Werkstätten, zu wenig Ersatzteile, Jahrzehnte lange Wartezeiten auf einen Neuwagen. Und man lief dem Westen immer hinterher. "Das war das Dilemma: Einerseits stand man im Wettbewerb mit dem kapitalistischen System, andererseits wusste man, dass der Kampf gerade bei einem technisch so komplexen Gegenstand wie dem Auto nicht zu gewinnen war", sagt Nordica Nettleton.

Sozialistische Autos waren Kinder der Mangelwirtschaft

Zugleich versuchte man wirklich, das "sozialistische Auto" zu bauen. Allerdings eher unfreiwillig, indem die Konstruktion den besonderen Zwängen der Mangelwirtschaft folgte. So wurde der Fiat 124, den die Sowjetunion in Lizenz baute, von russischen Ingenieuren in rund 100 Details auf die schlechten Straßenverhältnisse in der UdSSR angepasst. Auch der ostdeutsche Trabant konnte so nur im Sozialismus entstehen: Die Plaste-Beplankung der Karosserie, die materialsparende Mini-Ausführung, der winzige Motor – alles Spar- und Improviationszwang. "Zugleich waren Trabi wie auch Wartburg so konstruiert, dass die leichteren Instandhaltungsarbeiten auch von weniger qualifizierten Personen erledigt werden konnten", so Möser.

Trabant nT – die Rückkehr des Trabi auf der IAA 2009

Das Auto im Sozialismus: Improvisierte Trabi-Werkstatt.
Als Nebeneffekt führte die miserable Infrastruktur im Osten also dazu, dass sich breite Massen technische Fertigkeiten aneignen mussten. Das Auto als Qualifizierungsinstrument. "Das Handbuch für den Lada 1200 empfahl dem DDR-Käufer dringend, beim Neuwagen das Chassis freizulegen und komplett mit Rostschutz zu behandeln", berichtet der Karlsruher Autohistoriker. Sonst hätte das Fahrzeug dem Rost maximal sechs Jahre widerstanden. Offiziell diente dies alles natürlich dem Aufbau des Sozialismus: Ein Trabi-Schrauber-Ratgeber von 1967 beginnt mit der vollmundigen Polit-Phrase: "Möge dieses Buch in seinen bescheidenen Grenzen dazu beitragen, praktische Erfahrung zu vermitteln, handwerkliche Kenntnisse zu erweitern und damit dem technischen Fortschritt, der Steigerung der Arbeitsproduktivität, dem sozialistischen Aufbau dienen." Schöner kann man es wohl nicht ausdrücken.

"Das Auto hat den Sozialismus gekillt"

Die Wirklichkeit im tristen realsozialistischen Alltag sprach eine andere Sprache. Kein Wunder, dass die DDR-Bürger nach der Wende ihren vierrädrigen Zwangs-Genossen, sobald es ging, gegen einen Westwagen ersetzten. Es ging also weniger um die Banane, als um das Auto. "Ein Kollege hat mal gesagt: 'Das Auto hat den Sozialismus gekillt.' Ist vielleicht etwas simpel. Aber als der ultimative Konsumgegenstand hat es sicher dazu beigetragen", sagt Kurt Möser.

Buchtipp: "Trabant. Fahren – Tanken – Fahren"

Der Trabant ist DAS Auto der DDR: geliebt und gehasst, gepflegt, repariert und nach der Wende tausendfach achtlos weggeworfen, spiegelt er die Sozialgeschichte Ostdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch wider. Über dieses Kultauto, das heute fast den Status eines Youngtimers erreicht hat, berichtet der langjährige Auto-Schriftsteller Peter Kurze in seinem Buch "Trabant. Fahren – Tanken – Fahren." (Verlag Delius Klasing, 110 Seiten, 12,90 Euro, über 200 Fotos und Abbildungen). Zahlreiche Abbildungen aus zeitgenössischen Werbebroschüren, von privaten Trabi-Fahrern und offiziellen DDR-Zeitschriften illustrieren die Vita dieses kuriosen Autos, das 30 Jahre lang fast unverändert gebaut wurde. Obwohl es nie genug gab, sind rund drei Millionen Trabant-Limousinen und -Kombis im Kombinat VEB Sachsenring Automobilwerk Zwickau gefertigt worden. Sie mobilisierten die DDR und transportierten ihre Bürger klaglos ans Meer, in die Berge und 1989 über die endlich offene Zonengrenze in den Westen. Kurze setzt dem Wegbegleiter durch schlechte wie gute Tage in dem unterhaltsamen Bildband ein würdiges Denkmal.

Von

Roland Wildberg