Glückwunsch, Niva! Seit 1977 wird der 4x4-Russe gebaut. AUTO BILD-Autor Wolfgang Blaube unternahm einen symbolträchtigen Geburtstagsausflug.
Wo bitte, geht es nach Elend? "Dort vorn rechts, dann Richtung Schierke, junger Mann", sagt der alte Mann routiniert. Er kennt diese Gegend. Früher war er hier täglich per Pferdewagen unterwegs. Er, Erich Clemens (86), der letzte Bierkutscher der Hasseröder-Brauerei. "Mein Wirtschaftswunder" nennt er seine Ehefrau Magdalene (83). Weil die ehemalige Brauerei-Brigadierin die Haushaltskasse perfekt verwalte. Bester Beleg für die Genügsamkeit der Senioren ist ihr Wartburg 353 von 1970. Erstlack, Erstchrom, 250.000 auf der Uhr. "Der original Dreizylinder hielt 200.000 Kilometer", lacht der Erstbesitzer mit unüberhörbarer Vorfreude auf die nächsten 150.000. Dann verschwindet die DDR-Limousine in einer süßlich stinkenden Wolke.
Zwischen Sorge und Elend: der neue Oldtimer mit ungewisser Zukunft.Viel scheint sich nicht geändert zu haben, hier im Ostteil des Oberharzes, seit 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Gut so, finden nicht nur verklärte Ostalgiker. Nach wie vor ziehen fauchende Dampfloks die Züge der Harzquerbahn nach Fahrplan, die Preise im Gastgewerbe zeigen sich gleichsam als Klassiker, die Folklore der Straße erklingt noch immer im Kopfsteinpflaster-Stakkato. Das passende Umfeld für unsere Zeitreise zum 30. Geburtstag des Lada Niva. Er ist ein nagelneuer Oldtimer , ein unverbesserliches Ostprodukt. Mit ungewisser Zukunft zwischen Sorge und Elend. "Gegen die Koreaner haben Lada und Co nicht mal auf dem Heimatmarkt eine Chance, unsere Autoindustrie ist hoffnungslos" – das äußerte kürzlich sogar Russlands Vize-Regierungschef Iwanow. Die 115.000 Arbeiter, die früher im Lada-Werk Togliatti – der größten Autofabrik weltweit – Schrauben drehten, drehen heute überwiegend Däumchen. Lada ist uncool und unsexy für ein Volk, dessen Konsumkultur sehnsüchtig westwärts schaut.
Kein ABS, keine Airbags, keine Klimaanlage
Reizvolles Angebot: 9990 Euro kostet das 30-Jahre-Sondermodell Taiga.Und für uns? Nun, komfortverwöhnte Zeitgenossen mit aktuellen Sicherheitsansprüchen mögen sich vor Lachen biegen oder vor Angst flüchten. Freunde der traditionell schlichten Motorisierung hingegen loben, dass weder ABS noch Airbags, weder elekrische Fensterheber noch Klimaanlage versagen können. Die Türgriffe, wie auch die mikroskopisch kleinen Schlüssel stammen unverändert vom 1966er Fiat 124. Der Aschenbecher ist kein lieblos-rationelles Kunststoff-Spritzgussteil, er besteht aus vier sorgfältig verlöteten Zinkblechstreifen. Der Dachhimmel: PVC, weiß, perforiert und faltenfrei verspannt. Die Türtafeln: vinylbezogene Pappe statt haptisch optimierter 3D-Gebirge. Und die Stoßfänger tragen ihre Bezeichnung mit Würde und Unachtsamkeiten mit Fassung.
Für eine leise Dissonanz dieser klassischen Komposition sorgen lediglich die Details, mit denen ein Hauch von Moderne einzog: Das umschäumte Lenkrad, Erbe eines entzückenden Bakelitkranzes, klebt an der Hand wie eine eklige Nacktschnecke, die Strassbezüge der gut geformten Sitze erinnern an das Foyer einer ukrainischen Absteige, die Leuchtweitenregulierung ist Marke Aufsitzmäher. Original Lada ist hingegen der Geruch des Inneraums. Beim Neuwagen verursachen die Plaste-Ausdünstungen umgehend heftige Migräne, nach einer Woche lässt das Reizklima spürbar nach, drei Wochen später möchte man das seltsame Odeur nicht mehr missen. Wie übrigens auch den Niva selbst.
Wo geht es lang? Kleiner Plausch auf offener Straße, im Ostteil des Oberharzes kein Problem.In der urigen Bahnhofsgaststätte von Elend bestelle ich für bescheidene 2,90 Euro eine Soljanka mit Fleischeinlage – was sonst? Wirt Christian Göppel (26) liefert nach einem Blick auf den Parkplatz die passende Tischlektüre mit: das DDR-Magazin "Kraftfahrzeugtechnik" vom September 1978 mit der Vorstellung des Lada "Niwa". "Entsprechend der Aufgabenstellung im zehnten Fünfjahresplan begann 1977 die Serienproduktion", heißt es dort. Weite Verbreitung fand der damals hochmoderne Sowjet-Kraxler in der DDR indes nicht, erzählt Siegmund Kronenberger, den ich in seiner Gaststätte "Pfälzer Hof" im nahen Wernigerode besuche: "Bei uns galt er als Nutztier, wurde überwiegend in der Forstverwaltung eingesetzt." Er muss es wissen; schließlich war er bei der DDR-Außenhandelsagentur KoKo unter Schalck-Golodkowski für die Fahrzeugbeschaffung aus dem Westen zuständig. Lada, Westen? "Die Lieferungen aus der UdSSR reichten nie. Deshalb kauften wir vom großen Hamburger Opel- und Lada-Händler Dello Tausende Autos dazu", verrät der 65-Jährige eine sehr spezielle Anekdote aus der deutschdeutschen Geschichte.
Keine Wirtschaft, kein Tourismus, kein Wunder
Deprimierender Pflichtbesuch: das Mauer-Museum oberhalb von Sorge.Zeugnisse derer traurigsten Kapitel sind gerade zwischen Sorge und Elend unübersehbar. Die Mauer verlief direkt neben der Landstraße zwischen beiden Dörfern, die zum Sperrbezirk gehörten. Keine Zufahrt ohne Passierschein, keine Wirtschaft, kein Tourismus – kein Wunder, dass der Aufschwung in Zeitlupe durch Sorge und Elend kriecht, dass die Flucht der Jugend anhält. Elend hat noch 514 Einwohner, Sorge 119, Tendenz stark fallend. Nur wer das sympathisch Gestrige sucht, ist in dieser wundervollen Landschaft richtig. Die klagend klingenden Ortsnamen sollten Symbolwert haben für meine Tour mit der vermeintlich störrischen Ostlaube. Doch dann kommt alles anders. Der Niva offenbart erstaunlichen Reisekomfort, gleichzeitig macht ihn sein ungeschminkter Mangel an neuzeitlicher Perfektion zum herzenswarmen Kumpel, weckt Respekt, Zuneigung und Verständnis. Er passt also in dieses Ambiente. Nur andersrum als erwartet. 9990 Euro kostet das 30-Jahre-Sondermodell Taiga – ein reizvolles Angebot, das ich überdenken werde. Fest steht hingegen, wohin es mich künftig an freien Sommerwochenden zieht: nach Sorge und Elend.
Die Geschichte des Lada Niva
1966 vereinbart die UdSSR mit Fiat die Lizenzfertigung des 124. 1969 kommt der VAZ 2101 auf den Markt und geht kurz darauf als Lada 1200 in den Export. 1977 startet der Serienbau der ersten Eigenkonstruktion des 1976 präsentierten Niva – gemessen am 4x4-Standard mit sehr moderner Technik: 1,6-Liter-OHC-Motor mit 76 PS, Einzelradaufhängung und Scheibenbremsen vorn, Längslenker-Starrachse mit Schraubenfedern hinten. 1985: Fünfgang. 1993: optional Peugeot-Diesel (1,9 l, 64 PS; bis 98). Die einzige gründliche Überarbeitung erfolgt 1995: neue Armaturen und Rückleuchten, größere Heckklappe. Seit 2001 leistet der Niva 1.7i mit Bosch-Einspritzung 82 PS (138 km/h, 0–100 in 16,5 s). 2002 bringt das Joint Venture mit General Motors den nur äußerlich neuen Chevrolet Niva auf dem Heimatmakt, der Klassiker läuft offiziell als Lada 4x4 weiter. Bislang entstanden fast 2,3 Millionen Stück, gut 100.000 kamen nach Deutschland. Derzeitiger Jahresabsatz bei uns: um 1300 Niva.