Vor fünf Jahrzehnten taucht der Mercedes 600 Pullman auf, der Gipfel des damals Machbaren. Mit der Staatslimousine auf den Spuren der Bonner Republik.
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6,24 Meter ist der Pullman lang. Das Standardmodell des Mercedes 600 misst 5,45 Meter.
Während auf dem Autsalon 2015 in Genf der Mercedes-Maybach Pullman debütierte, ist es schon gut fünf Jahrzehnte her, dass sein Namensgeber auf die Straße kam. Selbst zu seiner Zeit sah man den der Mercedes 600 Pullman (W 100) selten in der Öffentlichkeit. Er war eher Dauergast in der "Tagesschau": Der Pullman gehört zur politischen Zeitgeschichte wie das Papamobil des Papstes oder die Flugzeugkennung Air Force One des US-Präsidenten. Denn als einst berühmteste Staatslimousine der Welt fuhr dieser Mercedes fast täglich irgendwo durch die TV-Nachrichten. Doch nun will Mercedes mit dem neuen Pullman auf Basis der aktuellen S-Klasse für eine halbe Million Euro die Mächtigen dieser Welt aus ihren Rolls-Royce Limousinen locken. Da kommen die Bilder aus der Bonner Republik zurück.
Auf den Spuren des 600er-Pullman
Video: Mercedes S600 Pullman
Mercedes Maybach in Genf 2015
Bild: AUTO BILD
Grund genug also, sich auf Spurensuche nach dem alten Pullman zu begeben: Die Staatslimousine war eine besonders luxuriöse und vor allem verlängerte Ausgabe des 600ers, den Mercedes auf der IAA in Frankfurt im Herbst 1963 mit nur einem Ziel präsentierte: Als vornehmste, teuerste und komfortabelste Limousine ihrer Zeit. Schon das Standardmodell maß respektable 5,45 Meter und kostete bei der Premiere schier unglaubliche 56.000 Mark. Für den Pullman streckten die Schwaben den Radstand um 70 Zentimeter auf 3,90 Meter, die Länge wuchs auf 6,24 Meter, und der Preis kletterte auf 63.500 Mark. Dafür konnten brave Bausparer damals schon ein hübsches Einfamilienhäuschen kaufen. Und das Landaulet schließlich war nicht nur wegen seines ungeahnten Komforts so etwas wie ein Schloss auf Rädern.
Gewaltiger V8 mit 250 PS
Gewaltiger V8-Motor mit 6,3 Litern Hubraum, der es auf stolze 250 PS und 510 Nm bringt.
Unter der Haube steckte bei allen drei Karosserievarianten ein gewaltiger V8-Motor mit 6,3 Litern Hubraum, der es auf stolze 250 PS und 510 Nm brachte. Heute gibt es so viel Kraft zwar schon in der C-Klasse. Doch damals hätte man mit solchen Werten selbst einem Porsche-Fahrer imponieren können. Natürlich sollte der von Chefkonstrukteur Fritz Nallinger binnen sieben Jahren entwickelte 600er auch schnell sein. Aber statt eines sportlichen Fahrverhaltens war im "Groß-Reise- und Repräsentationswagen" vor allem eines gefragt: maximaler Komfort. Dafür bauten die Schwaben eines der ersten Automatikgetriebe mit vier Gängen ein, eine Luftfederung, zwei Klimaanlagen, und sogar eine automatische Parkbremse war an Bord. Und wirklich schlecht waren die Fahrleistungen auch nicht. Im Gegenteil: Obwohl 2,6 Tonnen schwer, schaffte es der 600er in zehn Sekunden auf Tempo 100 und erreichte 207 km/h. Der Pullman war kaum langsamer.
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Bilder: Klassiker-Gigant Mercedes 600
Exklusiv und sogar gepanzert
Exklusiv und individuell war jedes der bis 1981 exakt 2677 mal gebauten 600er, von denen 428 als Pullman und 59 als Landaulet ausgeliefert wurden. Doch kein Auto war so exklusiv wie die beiden schwarz befrackten Lindwürmer, die noch bis nach der Wende und dem Umzug nach Berlin im Staatsdienst standen, Denn eigens für die Regierungsbesuche panzerte Mercedes zwei Luxusliner aufwändig, und weil Frankreichs Präsident de Gaulle so hoch gewachsen war, wurde zudem das Dach angehoben. Allerdings stieg das Gewicht so auf 4,5 Tonnen, und mit Rücksicht auf Reifen und Bremsen wurde das Tempo auf 100 km/h limitiert. Die Auffahrt zum Gästehaus auf dem Petersberg wurde so zur schweren Prüfung.
Der Pullman-Chauffeur
Wolfgang Wöstendieck fuhr als Mercedes-Werkschauffeur zwischen 1971 und 1993 mehr als 100 Staatsgäste.
Zu den erfahrensten Pullman-Experten gehört Wolfgang Wöstendieck. Schließlich war er über 20 Jahre lang einer der wichtigsten Fahrer der Republik: Als Werkschauffeur von Mercedes begleitete er im Auftrag der Bundesregierung zwischen 1971 und 1993 mehr als 100 Staatsbesuche und fuhr im politischen Dreieck zwischen dem Flughafen Köln-Bonn, dem Kanzleramt und dem Präsidentensitz in der Villa Hammerschmidt so ziemlich alle, die damals Rang und Namen hatten. Mehr Kenntnisse als er hat vielleicht nur der Pullman-Doktor Peter Schellhammer: "Der Pullman war nicht mehr und nicht weniger als das beste Auto seiner Zeit", sagt er. "Sicherer, moderner und komfortabler war damals keine andere Limousine", strahlt er noch heute voller Stolz. Für Kanzler und Könige war das ein Segen. Aber Schellhammer trug das viel Arbeit ein. Er war "Flying Doctor" bei den Schwaben, musste überall auf der Welt Mechaniker schulen und wies besonders wichtige Kunden persönlich ein. Natürlich waren es oft Sonderwünsche, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben.
Restaurierter Pullman kostet 500.000 Euro
Doch auch mit der normalen Technik hatte er bisweilen seine liebe Mühe. Vor allem die neuartige Komforthydraulik machte ihm zu schaffen. Weil Elektromotoren damals noch so groß waren wie Kokosnüsse, wurden viele Antriebe im 600er durch Hochdruckleitungen ersetzt. Nicht nur Stoßdämpfer und Bremsen, sondern auch Fenster und Sitzverstellung, die Trennscheibe und die neue Zuziehautomatik für die Türen wurden auf diese Weise bedient. Statt irgendwo einen Motor surren zu hören, macht es im Pullman deshalb einfach nur leise zisch, und schon gleiten die Fenster auf. Vor allem diese Hydraulik ist es auch, wegen der er selbst im Ruhestand noch oft um die Welt jetten musste und in irgendeinem Sultanat, Königreich oder Scheichtum zum Schraubenschlüssel greift. "Denn Ersatzteile für den 600er sind rar und teuer", sagt Schellhammer, "oft genug müssen sie deshalb von Hand nachgebaut werden". Allein die Schalterbatterie in der Tür kostet dann schnell 5000 Euro, rechnet er vor und erklärt damit auch, warum das werkseigene Classic Center in Fellbach zum Teil mehr als 500.000 Euro für die Restaurierung eines Pullmans in Rechnung stellt.
Im Pullman reist man wie auf dem Präsentierteller
Einzige Möglichkeit nicht auf dem Präsentierteller zu sitzen: Vorhänge zu.
Doch wenn der Wagen so gut in Schuss ist wie der Luxusliner aus dem Museumsfuhrpark, dann ist jede Ausfahrt noch immer ein königliches Vergnügen. Auch heute noch gleitet der luftgefederte Pullman wie eine Sänfte über die Rheinbrücke bei Bad Godesberg und schwebt durchs damalige Regierungsviertel, als hätte es nie einen Umzug nach Berlin gegeben. Und auch wenn diesmal die Polizeieskorte fehlt, sind dem standesgemäß beflaggten Staatswagen, dessen Chrom in der Sommersonne glänzt wie einstmals die Silbertolle von Präsident Weizsäcker, auf dem Weg zur Villa Hammerschmidt alle Blicke sicher. Während bei aktuellen Stretch-Limousinen und VIP-Shuttles oft abgedunkelte Scheiben für einen Hauch von Privatsphäre sorgen, reist der Staatsgast im Pullman wie auf dem Präsentierteller: Die handgenähten Vorhänge bleiben heute offen.
Die Minibar blieb meist unberührt
Die Minibar im schönsten Nierentischambiente ist mit Schnapsgläsern bestückt.
Weil der Wagen aber diesmal nicht im eigens eingebauten Kriechgang fährt und in den Kurven doch gefährlich wankt, lässt man sich stattdessen lieber in das weiche Sofa fallen, streicht mit der Hand über das beige Flockvelours der Lehnen, auf denen schon so viele gewichtige Arme geruht haben, und saugt ganz tief den Atem der Geschichte ein. Dabei fällt der Blick auf die gleich drei Telefone neben dem Fahrer, auf die Wechselsprechanlage über der Trennscheibe und auf die beiden orangenen Leuchten am Dachhimmel, die Mercedes den Fotografen zuliebe eingebaut hat, "damit die Staatsgäste auf den Fotos nicht immer so blass aussahen", erläutert Wöstendieck. Wer hier wohl schon alles gesessen hat? Wer schon alles die Minibar geöffnet hat, und vor allem was damals in der braunen Thermosflasche war, die auch heute noch im schönsten Nierentischambiente zusammen mit ein paar Schnapsgläsern auf durstige Passagiere wartet. "In der Regel gar nichts", muss Wöstendieck seine neugierigen Zuhörer enttäuschen.
Die Rückkehr des Pullman
Zwar gab es auch in den Baureihen der nachfolgenden S-Klassen immer mal wieder eine richtig lange Langversion. Doch so repräsentativ wie der Pullman aus der Bonner Republik waren seine Erben nie. Und mit dem Maybach konnte man zwar gehörig imponieren. Doch war der Über-Mercedes derart prunkvoll und dekadent, dass er es nie in die Regierungsfuhrparks geschafft hat. Doch jetzt wollen es die Schwaben noch einmal wissen und ziehen die aktuelle S-Klasse wieder in die Länge. Für etwas weniger als eine halbe Million Euro aufwärts gibt es das Flaggschiff dann ab Anfang nächsten Jahres auf Wunsch auch mit Panzerung - und einem gut einen Meter langen Zwischenstück, das die gerade erst präsentierte Maybach-Version der S-Klasse auf 6,50 Meter streckt und Raum für zwei entgegen der Fahrtrichtung montierte Sitze schafft. Zwar plant Mercedes dafür nur mit allenfalls dreistelligen Stückzahlen, doch wenn alles so kommt, wie sich die Schwaben wünschen, wird man auch diesen Pullman zumindest in den Nachrichten wieder etwas öfter sehen – der Bau der ersten Regierungsautos jedenfalls soll schon bald beginnen.
Von
Thomas Geiger
Bilder: Klassiker-Gigant Mercedes 600
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Mehr Cedes könnte man auch sagen, denn Mercedes steigerte sich 1963 mit dem 600 in den technischen Overkill. Die riesige Staatslimousine hatte alles an Bord, was damals gut und teuer war – und manches, was es noch nie zuvor gab.
Bild: Angelika Emmerling
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Die Karosserie im Ziegelstein-Design verachtet den cW-Wert völlig. Dafür verbirgt sie ein hochkomplexes Netz aus Nerven, das aus feinen, kilometerlangen elektrischen, hydraulischen, pneumatischen und unterdruckpneumatischen Adern besteht.
Bild: Angelika Emmerling
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Die Maxime der Entwickler: das fortschrittlichste Auto der Welt zu bauen, Geld spielt keine Rolle. Fast nebenbei wurde es als Pullman auch eines der längsten Autos.
Bild: Angelika Emmerling
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Tag der offenen Tür(en): So könnte das ideale Sammeltaxi aussehen. Aber bitte nicht am Hauptbahnhof, sondern bei Hofe!
Bild: Angelika Emmerling
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Der Pullman ließ sich unterschiedlich konfigurieren. Vier Türen, sechs Türen, vier Türen plus zwei versteckte Türen wie bei unserem Fotowagen, dann zwei Sitzreihen hinten, davon eine vis-à-vis oder in Fahrtrichtung geklappt oder doch nur eine ...
Bild: Angelika Emmerling
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... mit Bordbar, Telefon, Stereo- und Klimaanlage, ...mit Trennscheibe oder ohne ...
Bild: Angelika Emmerling
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... mit Trennscheibe (inklusive Vorhang) oder ohne. Das Luxus-Abteil bietet viel Platz und ist gefedert wie eine Sänfte. Wir finden duftiges Leder, elegante Hölzer, ...
Bild: Angelika Emmerling
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... dagegen gibt es keine schrägen und unschicklichen Windschutzscheibe zum Anstoßen des Kopfes. Man kann lässig aufstehen und sein Glück in die Welt winken. Der Chauffeur sitzt vorne, ganz weit weg, als wäre es ein Omnibus.
Bild: Angelika Emmerling
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Eine feine Komposition von Leder à la Creme an Applikationen vom Zebranoholz. Eleganz aus dem Untertürkheim der Sechziger Jahre – herr(schaft)lich!
Bild: Angelika Emmerling
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Kommandopult der Fondpassagiere, nur so für das Nötigste: Aschenbecher, Anzünder, Wippschalter für Sitzverstellung, Trennscheibe, Fensterheber und Schiebedach (von links).
Bild: Angelika Emmerling
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Wegen des enormen Prestiges fühlten sich auch Diktatoren im Fond des Mercedes 600 wohl – in der Regel überlebte das Auto seinen gestürzten Eigentümer. 1981 kam das Ende für den nur noch selten georderten und inzwischen unmodern gewordenen Wagen.
Bild: Angelika Emmerling
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Wer genau hinsieht, erkennt den mächtigen 6,3-Liter-V8-Motor mit 250 PS, umlagert von Pumpen und Kompressoren für die Druckluftanlage der Luftfederung und die Hydraulik. Er ist übrigens um 100 Kubikzentimeter größer und viel moderner als das damalige Rolls-Royce-Triebwerk.
Bild: Angelika Emmerling
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Tja, der 600 Pullman ist nichts für jedermann. Kaufen wir uns einen Strich-Acht oder einen W 123 und denken wir im Stillen daran, das die wenigstens aus dem gleichen Stall kommen.
Bild: Angelika Emmerling
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Große Mercedes gab es natürlich schon vor dem 600: Den Typ 770 zum Beispiel, gebaut von 1938 bis 1943. Ein Großer für die Größen der Welt. Die braunen Bonzen bevorzugten gepanzerte Versionen (und bezahlten sie nicht einmal).
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Der Mercedes 300 (1951 bsi 19629 bekam als Kanzlerwagen der jungen Bonner Republik schnell den Spitznamen "Adenauer" weg.
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Vom Mercedes 600 gab es noch die Normalversion, landläufig der "kurze" genannt. In Wirklichkeit maß auch er stramme 5,45 Meter.
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Und last not least das Mercedes 600 Landaulet, die Winke-Winke-Limousine für Päpste und Potentaten.