Frontantrieb, Vierzylinder-Turbo, europäische Maße. Der Chrysler New Yorker von 1984 sprengt alle Klischees, nur ganz bestimmt nicht das Budget.
Bild: H. Neu
Dieses Auto spricht zu uns. Nein, nicht im übertragenen Sinn, sondern blechern, knarrend und mit einem schweren amerikanischen Akzent. "A door is ajar", eine Tür steht offen. Oder: "Your oil-pressure is low." Und wer mal eben rausspringt, um einen Mustang zu zähmen oder ein Ölfeld zu entdecken, dem ruft der John Wayne aus dem Armaturenbrett hinterher: "Don’t forget your keys." Abziehen, einstecken. "Thank you." Jaja, schon gut. Electronic Voice Alert heißt diese unerhört futuristische Innovation des 1984er Mittelklasse-Topmodells Chrysler New Yorker. EVA lautet der Kosename der Kommando-Zentrale, was jedoch erst richtig Sinn ergibt, wenn der Schalter im Handschuhfach auf weiblich umgelegt wird. EFI ist auch noch an Bord, damit war vor bald 20 Jahren die neue Electronic Fuel Injection des 2,2-Liter-Vierzylinder-Turbos gemeint, mit Software von Chrysler und Hardware von Bosch, Elektro-Gimmicks, Turbo-Technologie, Raumökonomie, Motor-Downsizing, Frontantrieb – dieser Chrysler widerspricht den üblichen Klischees, ist anders. Ganz anders als ein Audi 100 dieses Jahrgangs sowieso, aber auch weit von der einheimischen Konkurrenz entfernt.
Radkappen als Speichenfelgen-Imitat und das "Landau-Dach" aus Vinyl sind beim Chrysler New Yorker Ami-Chichi.
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Mustang-Erfinder Lee Iacocca, von Henry II einst persönlich gefeuert, sanierte den Anfang der 80er-Jahre am Boden liegenden Riesen Chrysler mit erzwungener Hilfe von Angestellten, Staatsbürgschaften, Zulieferern und Banken, in etwa in dieser Reihenfolge. Was keiner für möglich gehalten hätte, gelang: Ein paar Jahre später erzielte Chrysler Verkaufsrekorde quartalsweise. Das Wunder der Chrysler-Rettung spielte sich auf Basis des K-Car ab, benannt nach seiner Bodengruppe. Auf dem Fundament einer einzigen Plattform, bestückt mit Frontantrieb, Mc-Pherson-Federbeinen vorn und Starrachse hinten, wurde ein ganzer Konzern neu erbaut. Mal länger und mal kürzer geschnitten und mit unterschiedlichen Buchstaben katalogisiert, wurden einfache Dodge- und Plymouth- sowie wertigere Chrysler-Modelle – Limousinen, Kombis, Cabrios, Coupés und die ersten Mini-Vans überhaupt – daraufgesetzt. Der Radstand differierte, die Technik blieb gleich.
The Good, the Bad and the Ugly: Moderne Antriebstechnik kollidiert mit lässiger Machart und dem Pomp des alten Amerika.
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Der New Yorker gehörte zur größeren E-Class, die maximale Ausbaustufe des Hütchenspiels markierte mit 3,33 Meter Radstand und sieben Sitzplätzen der "Executive". Vorn und hinten ein Chrysler LeBaron, nur in der Mitte mit mehr Blech und Vinyldach. Aber selbst als Langversion verkaufte sich das Einheitsauto. Den Traditionalisten blieben ein paar wenige Modelle mit Hinterradantrieb und V8-Motor, Toptypen vom internen Ranking her, aber steinalte Auslaufmodelle. Die Moderne besaß einen 2,2-Liter-Vierzylinder aus eigener Produktion, darüber rangierten ein 2,5-Liter und ein 2,6-Liter-Mitsubishi-Motor. Ein Garrett-Lader hauchte der Top-Maschine zwar ordentliche 144 DIN-PS ein, aber Fullsize war vorbei. Die oberste Mittelklasse in Form des ehrwürdigen Chrysler New Yorker war nur noch gut 4,70 Meter lang. Das alles klang nach "Alter Welt". Aber wo war das gute alte Amerika geblieben? Nun, es existierte weiter im Hang zu sinnlosen Stylingnoten. In billig gefälschten Lüftungsschlitzen und Holz-Ersatz, Kunststoff-Chrom, knietiefen Teppichen und wabbeligen Lounge-Sesseln mit kunstvoll bearbeitetem Leder, das sich anfühlt wie Kunststoff.
Luxuriöse Ledersitze, viel falsches Holz und vorn ordentlich Platz, dazu passt die Lenkrad-Automatik und Klimaanlage.
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Ebenso typisch amerikanisch geblieben ist das vinylbeklebte Dachteil, das Landaulet-Finesse vortäuschen soll. "Ultimate luxury, ultimate technology", schrieb Chrysler in die New-Yorker-Reklame. 60.501 Stück wurden 1984 verkauft, ein Exemplar ging an Mr. Walter O’Haire, Frankfurt am Main, Germany. Rechtsanwalt O’Haire – Jahrgang 1911, 1942 in die Army eingetreten, als Soldat nach Deutschland gekommen und in Frankfurt verheiratet – wählte das Luxury Equipment Package, den Extra-Rostschutz für Export-Fahrzeuge und ließ nur das Kassettenradio beiseite. 14.380,80 Dollar kostete ihn im August 1984 sein New Yorker. Er behielt ihn bis 1997, 70.000 Kilometer lang, es war sein letztes Auto. Bald 20 Jahre später stehen 4500 Euro auf dem Preisschild, das ist nicht viel für so viel Extravaganz und Einzelgängertum. Schaukelig stolpert der New Yorker über Bodenwellen, der Turbo kommt spät, aber immerhin druckvoll, und die Automatik schluckt einen Großteil von Leistung und Hektik. War es Mr. O’Haire egal, weil er überzeugter Chrysler-Fahrer war, oder wollte er nur ein US-Auto im europäischen Format? Niemand weiß es mehr. Ach, könnte EVA doch bloß erzählen und nicht nur sprechen.
Technische Daten
Wer hätte unter der Haube des New Yorker einen 2,2-Liter-Vierzylinder-Turbo vermutet? Ein V8 in dieser Umgebung, ja, das wär’s.
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Chrysler New Yorker 2.2 Turbo Motor: Reihenvierzylinder, vorn quer • Turbolader • eine oben liegende Nockenwelle über Zahnriemen angetrieben, 2 Ventile pro Zylinder, elektr. Einspritzung Chrysler-Bosch • Hubraum 2213 ccm • Leistung 106 kW (144 PS) bei 5600/min • max. Drehmoment 217 Nm bei 3600/min • Antrieb/Fahrwerk: Torque-Flite-Dreistufenautomatik • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung, vorn an McPherson- Federbeinen; hinten Torsionsachse an Längslenkern und Schraubenfedern • Scheibenbremsen vorn, Trommelbremsen hinten, Reifen 185/70 R 14 • Maße: Radstand 2624 mm • L/B/H 4717/1734/ 1346 mm • Wendekreis 11,0 m • Leergewicht 1214 kg • Fahrleistungen/Verbrauch: 0–100 km/h in 13,5 s • Spitze 155 km/h • Verbrauch 11,8 l N pro 100 km • Neupreis: 11.292 Dollar (1984).
Historie
1924 präsentiert Walter P. Chrysler auf der New York Auto Show sein erstes Modell, den Chrysler Six Model 70, 1933 rangiert das Unternehmen erstmals als zweitgrößter Autobauer hinter GM. Der erste Chrysler New Yorker wird 1939 als Oberklassemodell unterhalb der Topversion Imperial vorgestellt. 1955 wird Imperial zur eigenen Marke erhoben, der New Yorker stellt zukünftig in verschiedenen Bauformen (Limousine, Coupé, Kombi und Cabriolet) und Ausstattungsvarianten das Spitzenmodell der Chrysler-Palette dar und dient als Basis für exklusive Sondermodelle oder Kleinserien, wie zum Beispiel die "Letter Cars" der 300-Serie. 1979 kommt infolge der Ölkrisen das erste, 1981 das zweite Downsizing; zum letzten Mal wird der New Yorker mit V8-Motor und Heckantrieb angeboten, nur das Topmodell Fifth Avenue behält diese beiden Attribute. Zum Modelljahr 1983 erscheint die erste New-Yorker-Generation mit Frontantrieb auf Basis der K-Plattform, als Motoren dienen Reihenvierzylinder von Chrysler und Mitsubishi. Die letzte Generation wird zum Modelljahr 1993 vorgestellt, der letzte Chrysler New Yorker läuft im Sommer 1997 vom Band.
Plus/Minus
Der Umgang mit einem Chrysler New Yorker der frühen 80er erfordert aufgrund der Optik einen Hang zum Exhibitionismus.
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Seinen Reiz bezieht der erste New Yorker mit Vierzylinder und Frontantrieb aus jenem irren Stilmix, der zustande kam, als verzweifelte Stylisten sich gezwungen sahen, das für ein Modell der gehobenen Klasse notwendige Lametta auf der Verkehrsfläche eines Opel Rekord verteilen zu müssen. Wo gibt es schon so viel schräges Bling-Bling-Auto für so wenig Geld? Der Umgang mit einem New Yorker der frühen 80er erfordert aufgrund der Optik einen Hang zum Exhibitionismus, hingegen sprechen Abmessungen, Motorisierung und Verbrauch den kühlen Verstand an. Das alles passt auch nach 20 Jahren noch ins Straßenbild und bereitet selbst Stadtbewohnern kein Kopfzerbrechen. Und mit einem Saisonkennzeichen halten sich auch die Fixkosten für den Kat-losen 2,2-l-Motor in Grenzen.
Ersatzteile
Da weder der New Yorker dieses Jahrgangs noch seine einfacheren Schwestermodelle von Dodge oder Plymouth offiziell in Deutschland gehandelt wurden, sind Ersatzteile nur über den Umweg USA oder spezialisierte Händler zu bekommen. Die Technik ist dank des K-Car-Baukastens untereinander austauschbar, allerdings gibt es bei den Ausstattungen große Unterschiede zwischen den Konzernmarken. Die Fertigungsqualität der Teile, nicht deren Verfügbarkeit, bereitet Kopfzerbrechen – sie ist allenfalls sorglos zu nennen. Andererseits, wer hätte gedacht, dass der Warnungen aussprechende Sprachmodus auch nach fast 30 Jahren noch tadellos funktionieren würde? Also, nur Mut!
Marktlage
Es gibt keinen Markt, nur Einzelschicksale. Wer also wirklich auf die krude Mischung aus Ami-Plüsch und Europa-Format steht, sollte diesen New Yorker nehmen – ein Zweiter ist derzeit nicht im Angebot. Ganz anders verhält es sich mit den LeBaron-Cabrios der Nachfolger-Generation, die für kleines Geld die Anzeigenspalten fluten.
Empfehlung
In dieser Preisregion kostet Sparen nur Geld, also unbedingt das beste Auto kaufen. Zwei Alternativen, Kombi und Cabrio, seien empfohlen: LeBaron Town & Country Station Wagon oder Convertible. Beide sind luxuriös ausgestattet und schmücken ihre Flanken mit sagenhaft unecht aussehenden Holzplanken aus Plastik. Das ist so cool, dass sogar der vollbärtige Creative Director im W 123-Coupé über einen Markenwechsel ohne Wertausgleich nachdenkt.