Ach, diese abgenutzten Worte. Mythos, Ikone. Fakt ist: Selbst Auto-Ignoranten erkennen diesen Urtyp aller Super-Sportwagen. Insider gähnen, weil sie sich am Flügeltürer satt gesehen haben. Nur Geld, keine Leidenschaft sei nötig für diesen Mille-Miglia-GTI, diesen Schickeria-Schönling. Sie tun ihm Unrecht, sie verstehen ihn nicht. Und sie verkennen, was er einmal für die Deutschen bedeutete. Wer im März 1952 dabei sein darf, als der 300 SL seinen ersten Auftritt absolviert, staunt über eine seifenglatte Flunder, die Flanken ohne Türen trägt und flacher als ein Porsche ist. Fünf Jahre vorher war noch Chaos, Hunger, Schwarzmarkt. Und jetzt: Hildegard Knef als völlig nackte "Sünderin" im Kino – und ein Mercedes, der auf exotische Weise erotisch ist.

Enkel des Flügeltürers: Mercedes 300 SL der Baureihe 107

Mercedes 300 SL
Markenzeichen: Die Flügeltüren machten den 300 SL weltberühmt.
Dass der SL wie ein Wilder durch eine Nonnenklausur fegt, beweist die Leidenschaft seiner Konstrukteure. Und den Mut derer, die sie machen lassen. Gemeinsam wollen sie wieder ganz nach vorn, und Motorsport ist der Hebel dazu. Schon 1952 sammelt der Renn-300-SL Pokale wie Schuljungs Briefmarken. "Mercedes-Benz baut den besten Sportwagen der Welt", staunen Journalisten. Der Aufwand ist immens: Unterm Blech sitzt ein filigraner Rohrrahmen, der allein auf Zug und auf Druck, aber nirgendwo auf Biegung beansprucht wird. Den Motor, dem schweren Adenauer-300er entlehnt, versorgt eine Benzin-Direkteinspritzung – das ist neu. Die Ingenieure haben Flugzeugtechnologie für den Straßeneinsatz adaptiert. Dem noch ärmlichen Alltag ist der 300 SL so fern wie heute ein Bugatti Veyron, als Mercedes 1954 aus dem Renn-300-SL eine Serienversion schält.

Die Flügeltüren sind kein Styling-Gag

29.000 Mark kostet sie in Deutschland, teuer wie ein Haus und schneller als nahezu alles, was sonst so fährt: 230 km/h. Über 50 Jahre später wirkt ein 300 SL schnell, aber nicht leichtfüßig. Er ist kein Tänzer, sondern Stürmer. Ist keine Ferrari-Querflöte, sondern schmetternde Benz-Posaune. Die SSK-Gene schlagen durch, auch wenn der wie ein Saurier aus der Vorzeit neben ihm wirkt. Wer mit einem Flügeltürer schnell sein will, muss die tückische Hinterhand in schnellen Kurven beherrschen lernen und ihm den Platz auf der Straße reservieren, den seine Trommelbremsen fordern. Und immer wieder diese kühnen Klappen: Voller Verheißung schwingen sie weit in den Himmel. Sie sind kein Spiel, sondern kompromisslose Konstruktion, weil der hohe Rohrrahmen ordinäre Türen vereitelte. Unbewusst landeten die Schwaben damit einen gigantischen PR-Coup, der bis heute nachhallt. Niemand kann diese Türen vergessen. Sehr clever.

Technische Daten

Mercedes-Benz 300 SL
Sechs Zylinder in Reihe • kettengetriebene Nockenwelle • Kraftstoff-Direkteinspritzung • Hubraum 2996 ccm • 215 PS bei 5800/min • max. Drehmoment 275 Nm bei 4600/min • Vierganggetriebe • Hinterradantrieb • Länge/Breite/Höhe 4520/1790/1300 mm • vorn Einzelradaufhängung mit Sturzverstellung, geschmiedete Querlenker in Gewindebüchsen • hinten Zweigelenk-Pendelachse • Leergewicht 1295 kg • Spitze 230 km/h • Beschleunigung 0–100 km/h in 9,3 s • Verbrauch 16,7 l Super/100 km • Neupreis (1956): 29.000 D-Mark

Plus/Minus

Mercedes 300 SL
Die Benzin-Direkteinspritzung des SL 300 stammt ursprüglich aus der Flugzeugtechnik.
Damals war er der Schnellste, heute jagen ihn moderne Diesel-Limousinen. Das ist erniedrigend in einer Sportwagen-Ikone. Selbst das "Brausen", wie es der ehemalige Mercedes-Benz-Versuchschef Rudolf Uhlenhaut nannte, hilft da wenig. Doch bei säuselnden 3000/min fühlt sich der Flügeltürer gelangweilt, das ist nicht seine Tonlage. Und so macht er als Klassiker nicht jeden glücklich: Man sollte gut Auto fahren können, gegen Hitze unempfindlich sein – die Luft staut sich in der engen, kurbelfensterlosen Kanzel – und über innere Größe verfügen, um diesem unbequemen Auto-Superstar souverän Paroli zu bieten. Was ansonsten dazugehört: Geld. Viel Geld.

Marktlage

Immer wieder wurde das Preisgefüge des 300 SL als eine Art Stimmungsindex des Klassikermarktes herangezogen. Es stimmt, dass die Notierungen seit jeher zu den ambitioniertesten zählten: 300-SL-Preise zogen mit jedem Oldtimer-Boom stark an, brachen allerdings auch wieder ein. Es ist wie mit Aktien: Auf lange Sicht investiert, lohnt sich der Kauf. Wer Mitte der 80er-Jahre einstieg, bekam für umgerechnet 50.000 Euro ein gutes Exemplar. Heute ist es das Zehnfache wert.

Ersatzteile

Nur 1400 Exemplare des 300 SL hat Mercedes-Benz einst gebaut. Und trotz der geringen Stückzahl gibt es nahezu alle Teile, die es braucht, um einen Flügeltürer auf der Straße zu halten. Was fehlt, wurde nachgefertigt, oft in guter, manchmal sogar exzellenter Qualität. Mercedes liefert die Teile über jede Niederlassung und jeden Händler aus, was aber oft nicht hilft: Die Auswahl einer erfahrenen Werkstatt ist existenziell. Und die gibt es nicht überall.

Empfehlung

Die meisten 300 SL sind längst restauriert. Das klingt gut, doch die Qualität schwankt. Besonders Reimporte aus den USA sollten vor dem Kauf von einem Profi bis ins Detail geprüft werden. Es gibt adrette Exemplare, in deren Tiefe Rohrrahmen lauern, die mit Wasserleitungsrohr geflickt wurden. Ist die Arbeit dagegen handwerklich überzeugend, hat man den Flügeltürern oft die Seele aus dem Blech geschweißt. Dann wirken sie aseptisch und leblos.

Von

Christian Steiger