Einst ließen sich Kanzler und Konzernlenker darin chauffieren. Heute fahren Kind und Kegel im W 140. Annäherung an eine missverstandene Luxuskarosse.
Bild: G. v. Sternenfels
Wozu sind gute Vorsätze da? Richtig: um gebrochen zu werden. Mehr Bewegung, weniger Alkohol, keine Kohlenhydrate nach 18 Uhr – das neue Jahr war nicht mal eine Woche alt, da war das alles schon vergessen. Und jetzt? Wieder gescheitert! Eigentlich wollte ich Ihnen ersparen, in diesem Artikel die Worte "Autoreisezug" und "Bundeskanzler" lesen zu müssen. Doch um den Dicken zu verstehen (die S-Klasse, nicht Helmut Kohl!), kann man den Kontext seiner Zeit nicht einfach unter den Teppich kehren. 1991 ließen die Mercedes-Werber noch den "guten Stern auf allen Straßen" glänzen, und für "Das Beste oder nichts" waren in Stuttgart keine Wortakrobaten zuständig, sondern Ingenieure. Dass ihr Baby zum gesellschaftspolitischen Aufreger wurde, traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Die Abmessungen des Mercedes W 140 wirken heute weit weniger furchteinflößend als Anfang der 90er-Jahre.
Bild: G. v. Sternenfels
Der Mercedes W 140 war das richtige Auto. Er kam im Grunde nicht einmal zur falschen Zeit, sondern stolperte – man möchte beinahe sagen, unfreiwillig – als Elefant in einen Porzellanladen. Vor 22 Jahren, als man Gerd Höllerich alias Roy Black, die Füße in polierten Lackschuhen, tot in einer Fischerhütte fand und unsere noch in Bonn beheimateten Volksvertreter Berlin mit knapper Mehrheit zur neuen, alten Hauptstadt kürten, war Korpulenz jenseits des Kanzleramts nicht angesagt. Ökopaxe predigten das Gürtel-enger-Schnallen und zeterten gegen den neuen Zwölfzylinder, bei dem die Neubürger aus der ehemaligen DDR für ihre 100 Mark Begrüßungsgeld nicht mal den Tank hätten füllen können. Der "Spiegel" machte sich sogar zum Sprachrohr der Anti-S-Klasse-Bewegung. Er geißelte den "schwäbischen Schwerwagen-Stalinismus" und meinte, Saurier gehörten ins Museum. Aber es gab auch andere Ansichten. Während der Stammtisch schenkelklopfte, weil der W 140 nicht auf den Autoreisezug nach Sylt passte (was gar nicht stimmte), und über einen Zweitonner spottete, der angeblich nur mickrige 260 Kilo Zuladung verkraftete (was auf einem Datenfehler beruhte), witterte die bürgerliche "FAZ" "fehlgeleiteten Sozialneid", lobte die Vielzahl an Sicherheitsinnovationen und schlussfolgerte mutig, das Fahren eines Luxusautos sei somit "die wohl sozialste Art der individuellen Fortbewegung".
Der W 140 gab sich keine besondere Mühe, schlank zu wirken.
Bild: G. v. Sternenfels
Tatsache ist: Während die Deutschen mit dem Topmodell aus Stuttgart haderten, standen die Amis auf den "Wagen 140" und die Japaner, wie man damals witzelte, sogar darin. Über 20 Jahre Distanz lassen die Aufregung von einst zudem als das erscheinen, was sie eigentlich schon damals war: ein Sturm im Wasserglas. Der Längenzuwachs zum Vorgänger betrug überschaubare 9,3 Zentimeter, bei der Langversion sogar nur 5,3. Und auch die Breite (1,89 Meter) sprengte kaum die gängigen Dimensionen, wiewohl das Werk in weiser Voraussicht mit angeklappten Spiegeln Maß genommen hatte. Heute ist ein FordMondeo raumgreifender, und hörte man sich – was ein großes Automagazin 1992 tat – unter dessen Besitzern um, würden wohl auch 18,8 Prozent der Fahrer Angst an Tiefgarageneinfahrten und 33,9 Prozent Parkprobleme beklagen. Die Verkehrsarchitektur ist in den letzten 20 Jahren schließlich nicht mitgewachsen, und auch übersichtlicher sind unsere Autos nicht geworden. Sicher, heute braucht es zum Rangieren keine Peilstäbe mehr, die wie Miniantennen aus den hinteren Kotflügeln herausfahren. Ihren Job erledigen längst Ultraschallsensoren. Aber ein W 140 wirkt im Alltag auch nicht mehr so elefantös wie früher. Obwohl er durchaus dickfellige Züge hat. Wenn die gewaltigen Türen schmatzend ins Schloss schnappen und die Doppelglasscheiben den Krach des fahrenden Volks auf Flüsterlautstärke herabdämmen, bemächtigt sich der reisenden Familie ein Gefühl tiefer Geborgenheit. Selbst die Kinder schweigen ehrfürchtig. Offenbar glauben sie, gerade ein Wohnzimmer betreten zu haben, in dem die Sessel zufällig in eine Richtung zeigen. Man ist bei reichen Leuten hier, das flößt Respekt ein; selbst den vergleichsweise bodenständig ausstaffierten 300 SE von Oliver Krenz umweht eine Aura von ehrlich erworbenem Wohlstand.
Die "Holzausführung Wurzelnuss" hübscht das sonst mit taximäßigem Zebrano vertäfelte Cockpit auf.
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Der Erstbesitzer, ein Juwelier aus Böblingen, der für die brillantsilberne Limousine 1992 inklusive Extras 119.511,70 Mark an die Stuttgarter Mercedes-Niederlassung überwies, begnügte sich mit Stoffsitzen, gönnte sich aber die Pracht von Wurzelholz und überließ das Schalten einer fünfstufigen Automatik. Ein solcher W 140 ist heute die vernünftigste Wahl, denn je weniger drin und dran ist, desto weniger kann kaputtgehen. Pneumatische Tür-Zuziehhilfen oder adaptive Stoßdämpfer – wer braucht das schon? Es muss auch kein V8 sein und erst recht nicht der sechs Liter große Zwölfzylinder, mit dem Mercedes süße Rache dafür übte, dass BMW vier Jahre früher einen solchen Motor hatte. Sechs Zylinder reichen, sofern man nicht den falschen Ehrgeiz hat, sich auf der linken Spur mit wild gewordenen Vertreterkombis anzulegen. Die Fahrleistungen entsprechen der Würde des Wagens, und "mehr als zwölf Liter schluckt er selten", sagt Oliver Krenz. Womit das erhabene Gefühl, einen der letzten Ingenieurwagen der Welt zu fahren, sogar bezahlbar bleibt. Ingenieurwagen? Jawohl. Nachdem von Bundeskanzlern und von Autoreisezügen schon die Rede war, darf der "letzte echte Mercedes" gern in der Klischee-Garage bleiben. Unstrittig ist jedoch, dass alles, was nach dem W 140 kam, nicht mehr so kompromisslos selbstverständlich dem High-End-Gedanken folgte. Warum? Nach dem verpatzten Start der Limousine musste Entwicklungschef Wolfgang Peter seinen Hut nehmen. Mercedes verkürzte den zehnjährigen Entwicklungsvorlauf, die Ingenieure unterstellte man dem Marketing. Der Rest ist Geschichte. So wie die guten Vorsätze vom letzten Jahr.
Technische Daten
Sechs Zylinder reichen, sofern man nicht den falschen Ehrgeiz hat, sich auf der linken Spur mit wild gewordenen Vertreterkombis anzulegen.
Bild: G. v. Sternenfels
Mercedes 300 SE (W 140) Motor: Reihensechszylinder, vorn längs • zwei oben liegende Nockenwellen, Antrieb über Kette, vier Ventile pro Zylinder, elektronische Benzineinspritzung • Hubraum 3199 ccm • Leistung 170 kW (231 PS) bei 5600/min • max. Drehmoment 310 Nm bei 4100/min • Antrieb/Fahrwerk: Fünfgang-Schaltgetriebe (auf Wunsch Vier- oder Fünfstufenautomatik) • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung, vorne an Doppelquerlenkern, Schraubenfedern, Drehstab-Stabilisator, Gasdruckstoßdämpfer, hinten Raumlenkerachse, Schraubenfedern, Drehstab-Stabilisator, Gasdruck- Stoßdämpfer (auf Wunsch Niveauregulierung) • Reifen 225/60 R 16 • Maße: Radstand 3040 mm • L/B/H 5113/1886/1492 mm • Leergewicht 1890 kg Fahrleistungen/Verbrauch: 0–100 km/h 8,9 s • Spitze 225 km/h • Verbrauch (Drittelmix) 12,2 l S pro 100 km (Werte für Fünfstufenautomatik) • Tank 100 Liter • Grundpreis: 90.516 Mark (1992).
Historie
1981 beginnt Mercedes mit der Entwicklung des W 140, der Vorgänger W 126 läuft da noch nicht einmal zwei Jahre. Auf dem Genfer Salon im März 1991 feiert die neue S-Klasse Premiere, mit "Plakettenkühler" (kam beim W 124 erst zwei Jahre später) und Peilstäben am Heck. Highlight unter den vier Motoren (231 bis 408 PS) ist ein nagelneuer Sechsliter-V12. Während Abmessungen und Verbrauch in Deutschland auf Kritik stoßen, ist der W 140 den Amis einen Umweltpreis wert: Als erstes asbest- und FCKW-freies Auto gewinnt er den "Stratospheric Ozone Protection Award". Ab Oktober 1992 gibt es die S-Klasse erstmals auch auf dem Heimatmarkt als Diesel (3,5 Liter, 150 PS). Seit Juni 1993 folgt der W 140 der neuen Nomenklatur des Hauses, Baureihenkürzel und Typziffer tauschen die Plätze, zudem wird beim Hubraum nicht mehr tiefgestapelt: Ab sofort heißt es S 320 statt 300 SE. Ein Facelift bringt 1994 leichte kosmetische Retuschen. 1995 erfolgt ein technisches Upgrade, unter anderem mit der schrittweisen Einführung der Anti-Schleuder-Elektronik ESP. 1998 übergibt der W 140 an den W 220; 406.717 Stück werden gebaut.
Plus/Minus
"Ist halt ’n bisschen größer geworden", meinte Vorstandschef Werner Niefer bei der S-Klasse-Präsentation 1991.
Bild: G. v. Sternenfels
Keine Angst vor großen Tieren! Die Abmessungen des W 140 wirken heute weit weniger furchteinflößend als vor 20 Jahren. Moderne Fahreigenschaften und neuzeitliches Sicherheitsniveau prädestinieren die Kanzler-Karosse für den Alltag, bei den Sechszylindern mit Automatik gab es 1996 auf Wunsch sogar schon ESP. Ärger macht am ehesten die Elektronik: Der W 140 war der weltweit erste Pkw, bei dem der Datenaustausch zwischen den Steuergeräten über einen CAN-Bus lief. Ausfälle, auch durch gealterte Kabelverbindungen, können viel Geld und noch mehr Nerven kosten. Das Fahrwerk (Traggelenke, Querlenker und Koppelstangen) unterliegt wegen des hohen Gewichts beschleunigtem Verschleiß, besonders bei Autos mit Breitreifen und Tieferlegung. Rost ist selbst bei Wasserbasislack (ab Ende 1994) kein Riesenthema – wenn, befällt er bevorzugt die Heckklappe rund ums Kofferraumschloss oder nistet unter den "Sacco-Brettern". Verbundglasscheiben werden im Alter an den Rändern milchig, Ersatz ist teuer. Die Diesel neigen zu Zylinderkopfschäden. Reißende Steuerketten werden ab circa 200.000 km zum lebensbedrohlichen Risiko für die Acht- und Zwölfzylinder.
Ersatzteile
Das Allermeiste gibt es nach dem Prinzip "heute bestellt, morgen geliefert" beim Mercedes-Händler, das Preisniveau liegt aber höher als bei den kleineren Baureihen. Erste Versorgungslücken tun sich auf, wenn Ersatz für bestimmte Teile der Innenausstattung gebraucht wird.
Marktlage
Der "Dicke" steckt mitten in der Fähnchenhändler-Phase, oft geht es vom Kiesplatz direkt Richtung Osteuropa. Taschentuchgepflegte Opa-Benze werden selten, bei vielen W 140 ist Wartungsstau ein Thema. Hohe Kilometerstände sind die Regel, Vorsicht vor gedrehten Tachos! Fahrbereite Autos mit Rest-TÜV gibt es ab 2000 Euro.
Empfehlung
Je weniger Elektronik, desto besser. Und: Es muss keiner der dicken Motoren sein! Mit einem 300er oder 320er fährt man schon standesgemäß, aber noch wirtschaftlich. Vorsicht bei Schnäppchen: Autos für unter 5000 Euro werden unter Garantie zum Groschengrab. Zur Sicherheit die Kaufsumme als Puffer für Reparaturen in der Hinterhand behalten. Und ansonsten: beten, dass nichts kaputtgeht!