Zwischen Wladiwostok und Lehnin kreuzte einst der Tatra 613 durch sozialistische Gewässer. Kennzeichen: Lenor-Plüsch, luftgekühlter V8 im Heck und Design von Vignale. Heute schwimmt er auf der Ostalgie-Welle.
Der Tatra 613 ist ein Kleinod, ähh, eher ein Großod, aus dem größten je existierenden Biotop für skurrile Autos – dem Kommunismus, in diesem Falle die tschechische Variante. Inzwischen ist der Kommunismus ausrangiert, und es finden sich erste Liebhaber für den Cadillac des Ostens, auch wenn er nicht gerade nach Cadillac aussieht. Seit dem Typ 77 (von 1934) des genialen Hans Ledwinka, der als eigentlicher Vater des VW Käfer gilt, war das Markenzeichen der Marke aus Koprivnice (deutsch: Nesselsdorf) immer die Stromlinie. Aber dann kam 1974 dieses zeitgeistig-kantige Gerät als Nachfolger der legendären, pfannkuchenartigen Aerodynamik-Limo 603.
Der neue T 613 genannte Typ sah zwar nach ursozialistischem Design aus, war aber original italienische Raffinesse von Vignale. Die Karosseriefirma ging gleich darauf pleite, wobei Zusammenhänge mit Tatra freilich nicht überliefert sind. Immerhin wurde der Entwurf mit seiner niedrigen Gürtellinie und den großen Fenstern mit 22 Jahren Bauzeit einer der langlebigsten überhaupt, was aber bloß an den begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten von Tatra lag. So sprang der T 613 vom Sozialismus bis tief in das Haifischbecken des Kapitalismus, in dem er 1996 kaum beachtet unterging, auch wenn er angehübscht als T 700 noch einmal verzweifelt bis 1999 auftauchte. Nur 11.000 Stück wurden in insgesamt fünf Serien gebaut, macht 500 im Jahr.
Von Ledwinkas Urkonzept blieb nur die Heckmotoranordnung. Der Kofferraum liegt dafür unter einer ausladenden, jedoch zum Einladen gedachten Fronthaube im Format einer Tischtennisplatte. Der Motor ist eine mährische Spezialität: Ein luftgekühlter (!) V8 mit 3,5 Liter Hubraum, zwei oben liegenden Nockenwellen und 165, später gar 200 PS. Er benimmt sich kultiviert und passt ausgezeichnet zum schwebenden Fahrgefühl. Beim Einsteigen in dieses konsequent gegen alle Trends konstruierte Auto spürt man als hauptsächliche innere Regung jedoch: "Hey, ist der groß." Wer einmal im Tatra hinten gesessen hat, der weiß, dass alle unsere stolzen Luxusdampfer unterhalb des Maybach 62 nichts anderes sind als Touristenklasse.
Innere Freiheit
Der T 613 hat Business-Class-Format zum Beineausstrecken, wobei man entspannt dem Volk zuwinken kann, das da draußen mehr oder weniger freiwillig Fähnchen schwenkt. Ein Tatra war schließlich immer ein volksferner Bonzendampfer. Der Arbeiterklasse blieb er verwehrt. Vorwiegend in Ostdeutschland hat sich inzwischen eine Liebhaber-Szene entwickelt, die auch die rareren Modelle ihrer einstigen Führer aufstöbert: gepanzerte, gelängte, aufgeschnittene und erhöhte Versionen. Damit lässt sich gut das Lebensgefühl der Politklasse nachspüren. Oder einfach nur mit der ganzen Sippe durch Europa tingeln.
Technische Daten
Tatra T 613
Luftgekühlter V8-Heckmotor • Hubraum 3496 ccm • 121 kW (165 PS) bei 5200/min • max. Drehmoment 265 Nm bei 2500/min • Vierganggetriebe • Hinterradantrieb • L/B/H 5025/1800/1505 mm • Leergewicht 1670 kg • Reifen 215/70 HR 14 • Scheibenbremsen vorn/hinten • Einzelradaufhängung vorn • Schräglenker und Schraubenfedern hinten • Spitze 190 km/h • Neupreis 1973:circa 80.000 DDR-Mark (Preis geschätzt: Auto war nie privat erhältlich und wurde in der DDR ausschließlich an Ministerien verkauft)
Historie
1937: Der von Hans Ledwinka konstruierte Tatra 87 mit halbselbsttragender Karosserie erscheint auf dem Markt. Aufsehenerregend: aerodynamische Tropfenform, cW-Wert 0,36, luftgekühlter V8-Motor im Heck. 1948: Vorstellung des Tatra 600 Tatraplan. 1956: Als Nachfolger des fast 13 Jahre lang gebauten Tatra 87 erscheint der Tatra 603, genannt "Walfisch", mit 95 PS. 1973: Vorstellung des Tatra T 613. Modellpflege und Umbenennung in T 623 im Jahr 1980.
Plus/Minus
Der Tatra T 613 ist ein exotischer und mit seinem luftgekühlten V8-Motor mit zwei oben liegenden Nockenwellen technisch anspruchsvoller Wagen, zudem mit nur 11.000 gebauten Exemplaren eine Rarität. Fahrwerk und Lenkung waren bei seiner Premiere 1973 zeitgemäß und auf dem Stand westlicher Technik. Er gilt als robust und langlebig. Allerdings sind Ersatzteile teilweise nur schwer zu kriegen, und es gibt nicht viele Mechaniker, die sich mit der ungewöhnlichen Technik auskennen. Der Tatra 613 ist keine Limousine zum Schnellfahren, die weiche Federung animiert eher zum Gleiten, was auch den ordentlichen Durst des rollenden Politbüros in Grenzen hält.
Marktlage
Da nur 11.000 Exemplare des Tatra T 613 gebaut wurden, ist das Angebot sehr übersichtlich. Andererseits ist auch die Nachfrage noch recht gering, ergo bewegen sich die Preise auf niedrigem Niveau. Insbesondere in Tschechien und der Slowakei lassen sich noch immer recht günstige Fahrzeuge auftreiben. Der Nachfolger nannte sich übrigens schlicht T 700, war aber im Grunde nichts anderes als ein schwer aufgebrezelter Tatra 613, der bis 1999 gebaut wurde.
Ersatzteile
Die sind ein Problem. Allerdings haben Enthusiasten einen großen Posten Teile aufgekauft (Kontakt über tatra-register.de). Außerdem laufen vor allem in Tschechien und der Slowakei noch zahlreiche Tatra-Limousinen, die zum Teil ausgeschlachtet werden, zudem gibt es dort noch kompetente Werkstätten. Manche Teile sind baugleich mit denen westlicher Marken, etwa Gelenkwellen und Federbeine.
Empfehlung
Die frühen Modelle besaßen noch Chromstoßstangen, später waren diese aus Plastik. Deshalb sind Modelle der Serien 1 und 2 bis 1984 die begehrteren. Gesucht sind auch Staatskarossen der Ostblock-Granden. Rar sind die 160 km/h schnellen Krankenwagen, vor allem aber die 623-Modelle, das waren getunte T 613 für den Dienst als Pace-Car auf den Rennstrecken des Ostens.