"Tatra – einer aus'm Osten, oder? Das sind doch diese Politbüro-Schlurren mit Heckmotor? Sind die nicht zu Recht mit dem Eisernen Vorhang weggerostet?" – Wer wenig über Tatra weiß, neigt dazu, die Großwagen aus Kopřivnice (bis 1918: Nesselsdorf) zu unterschätzen und den T613 in die staubige Parteibonzenkarren-Schublade zu stecken. Doch Obacht: Nicht überall im Osten waren charakterstarke Luxusautos politisch unerwünscht. Denn auch ein Tatra der siebziger Jahre trägt noch den Geist Hans Ledwinkas unterm Blech, eines der genialsten Automobilkonstrukteure des 20. Jahrhunderts.
Tatra T613
Der Tatra T613 war mit seinen 190 km/h Spitze schneller als es die Straßen des Sozialismus erlaubten.
Bild: T. Starck
Hans Ledwinka, gebürtiger Österreicher, erschafft das Konzept mit V8-Motor hinten schon in den 30ern. Schon mit 19 ist er zur Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft, später Tatra, gekommen. Reich an Ideen, entwickelt er in den Zwischenkriegsjahren futuristische Serienautos mit Stromlinienkarosserie, großer Rückenflosse für besseren Geradeauslauf auf den neuen Autobahnen – und mit luftgekühltem Achtzylinder aus Magnesium im Heck. Viele sehen in Hans Ledwinka, der eine enge Freundschaft zu Ferdinand Porsche pflegt, den wahren Vater des Volkswagens. Nach dem Zweiten Weltkrieg muss sich VW wegen Patentrechtsverletzung verantworten – und verliert. Und Tatra? Die Tschechen schaffen es tatsächlich, die Tradition ihrer Alleinstellungsmerkmale in die Nachkriegszeit zu retten. Und das, obwohl nur noch die wenigsten Tatra-Kunden Privatleute sind. Vergangenheit.
Die heißen Heckschleudern: Klassiker mit Heckmotor

Das Platzangebot ist verschwenderisch

Tatra T613
Die Form der C-Säulen soll nach dem Willen der Entwickler ein Verschmutzen der Heckscheibe bei üblem Wetter verhindern.
Bild: T. Starck
Im Hier und Jetzt reicht uns Kurt Jänicke aus Angermünde in der Uckermark die Schlüssel seines schwarzen T613: "Sie sind noch nie einen Tatra gefahren? Das müssen wir ändern!" Der Reporter fällt auf den plüschweichen Fahrersessel und die Tür ins Schloss. Die Rundumsicht ist dank der großen Fensterflächen exzellent, das Platzangebot verschwenderisch. Fauchend erwacht der Beinahe-Mittelmotor und verfällt dann in ein unaufdringliches Leerlauf-Rauschen. Bald ist klar: Ein schwarzer Tatra verschafft sich den Respekt auch dann, wenn keine Menschenmenge fähnchenschwenkend am Straßenrand steht. Schalten ist selten nötig, weil der schwarze Riese sein maximales Drehmoment von 265 Newtonmetern schon bei 2500 Touren abliefert. Der Luxusliner aus Kopřivnice ist ein gediegener Gleiter, auch wenn das DDR-Magazin "Jugend + Technik" einst glaubt: "Sollte es dabei bleiben, so wäre der Tatra 613 der einzige Groß-Pkw, der auf Grund der Motoranordnung die Eigenschaften von Sportwagen aufweist."
Charmanter Tscheche: Skoda Felicia

Achtzylinder im Heck

Tatra T613
Vom kuscheligen Fahrersessel aus blickt der Tatra-Fahrer über den flachen Sicherheitspralltopf des Lenkrads auf fünf Rundinstrumente.
Bild: T. Starck
Gemeint ist die Platzierung des 165 PS starken 3,5-Liter-Achtzylinders mit seinen zwei oben liegenden Nockenwellen pro Bank auf der Hinterachse. Sie verleiht dem 613, verglichen mit früheren Tatra-Modellen, deutlich mehr Fahrstabilität. Der walfischige T603 hatte noch den Ruf, bei nasser Piste eine hinterlistige Heckschleuder zu sein. Ist der Tatra Sechsdreizehn also der Neunelfer unter den Luxuslimos? Na, er klingt jedenfalls ganz ähnlich, mit einer Prise Ami-V8 obendrauf. Nur leiser ist er – Geräuscharmut war schon dem großen Hans Ledwinka wichtig. Ein Grund, warum er die Motoren seiner Autos immer so weit nach hinten packte. Die kantige Form mit der weit eingezogenen Heckscheibe und dem flachen Bug unterm XXL-Kofferraumdeckel (Unwissende halten ihn für die Motorhaube) bricht mit der Stromlinien-Tradition der Großwagen aus Nesselsdorf – und erinnert von vorn an einen aufgepumpten VW 411. Keine Bleistiftspitzen tschechischer Konstrukteure haben dieses Styling zu Papier gebracht, sondern Vignale in Italien. Das Korsett der wirtschaftlichen Beschränkungen zwingt Tatra dazu, dieses Auto immer wieder aufs Neue zu modernisieren und ganze 22 Jahre lang zu bauen. Richtig billig ist so ein T613 heute zwar nicht. Doch gemessen an seiner Geschichte und Exklusivität auch nicht wirklich teuer. Das Wichtigste jedoch: Kaufen darf ihn heute jeder, der noch einen findet.

Technische Daten

Tatra T613
Mährische Delikatesse: luftgekühlter 3,5-Liter-V8 mit vier oben liegenden Nockenwellen und 165 PS.
Bild: T. Starck
Tatra T613 Motor: V8, luftgekühlt, hinten längs • zwei obenliegende Nockenwellen pro Bank, über Zahnriemen angetrieben, zwei Ventile pro Zylinder, zwei Doppelvergaser • Hubraum 3496 ccm • Leistung 121 kW (165 PS) bei 5200/min • max. Drehmoment 265 Nm bei 2500/min • Antrieb/Fahrwerk: Viergangschaltgetriebe • Heckantrieb • Einzelradaufhängung an Dreieckquerlenkern vorn, hinten Schräglenker und Schraubenfedern • Scheibenbremsen vorn und hinten • Reifen 215/70 HR 14 • Maße: Radstand 2980 mm • L/B/H 5025/1800/1505 mm • Leergewicht 1670 kg • Fahrleistungen und Verbrauch: 0–100 km/h in 12,1 s • Spitze 190 km/h • Verbrauch circa 15 l S pro 100 km • Neupreis: ungefähr 78.000 DDR-Mark (1979, Preis geschätzt, da der T613 nicht für Privatpersonen erhältlich war und nur an Ministerien verkauft wurde).

Historie

1897, elf Jahre nach Carl Benz' Patent-Motorwagen, bauen sie im mährischen Nesselsdorf den "Präsident". Es ist die Zeit der großen Auto-Pioniere, und einer der Größten unter ihnen heuert 1897 in der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft an: Hans Ledwinka. Hier entwickelt er den revolutionären Tatra 11 mit verwindungsfreiem Zentralrohrträger und den Volksauto-Prototyp V 570, von dem sich Ferdinand Porsche den KdF-Wagen abguckt und dabei Patente verletzt. In den Zwischenkriegsjahren baut Tatra erstmals luftgekühlte V8 und das erste Auto mit aerodynamischer Karosserie überhaupt, den T77. Pech für den Erfinder: Ledwinka gerät im Krieg auf die falsche Seite, landet als Kollaborateur der Nazis im Knast. Wieder frei, kehrt er nicht zu Tatra zurück und stirbt 1967 in München. Tatra hält indes auch im Sozialismus an Ledwinkas Ideen fest und nimmt 1956 die Produktion des Luxus-Pkw 603 auf. 1968, im Jahr des Prager Frühlings, beginnt die Entwicklung des 613 mit Vignale-Karosserie, von dem Tatra 8965 Exemplare in fünf Serien baut. Seit dem Auslaufen des 700 im Jahr 1999 ist Tatra reiner Lkw-Hersteller.

Plus/Minus

Tatra T613
Richtig billig ist so ein T613 heute zwar nicht. Doch gemessen an seiner Geschichte und Exklusivität auch nicht wirklich teuer.
Bild: T. Starck
Manche seiner Vorzüge liegen auf der Hand. Aber der Tatra 613 ist eben nicht nur historisch interessant, weil er die verdorbenen Greise des Sozialismus beförderte. Die Geschichte der Marke Tatra liest sich schon spannend, lange bevor das Kapitel Kalter Krieg beginnt. Und weil der Vier-Nockenwellen-V8 des 613 nicht nur ein Technik-Leckerbissen, sondern bei entsprechendem Umgang auch ein standfester Genosse ist, können wir dem großen Tschechen sogar eine Empfehlung als Alltagsklassiker aussprechen. Weil es eine Freude ist, ihn zu fahren und sich eine Mercedes S-Klasse der 70er ziemlich strecken muss, um einem 613 in Sachen Klang, Komfort und Platzangebot das Wasser zu reichen. Ein dickes Minus gibt es für den Durst und die heikle Ersatzteillage.

Ersatzteile

Vorsicht, hier wird es düster! Denn egal ob es um das Interieur, Karosserie-, Motor- oder Getriebeteile geht: Tatra-Teile besorgen ist die reinste Schnitzeljagd. Wer daran wenig Freude findet, sollte versuchen, an ein günstiges Schlachtfahrzeug zu kommen. Denn morsche Teileträger lassen sich hin und wieder zu vertretbaren Kursen aus Tschechien und der Slowakei abschöpfen. Einen Bestand an wichtigen Teilen hat sich außerdem das Tatra-Register-Deutschland gesichert. Szenekontakte sind hilfreich, denn eine werksseitige Versorgung gibt es nicht.

Marktlage

Gemessen an Seltenheit und technischer Raffinesse ist der 613 nicht teuer. Rund 3700 Euro kostet ein Auto im Zustand vier, rund 14.200 sind es für ein Auto im Zustand zwei. Aber: erst mal einen finden. Das Angebot ist bei weniger als 9000 gebauten 613 Exemplaren übersichtlich, und Szenekenner wissen: Tatra-Neueinsteiger wollen meist möglichst wenig Geld ausgeben, während trennungswilige Besitzer oft überhöhte Preise aufrufen.

Empfehlung

Frühe 613er sind beliebt, weil sie noch blitzende Chromstoßstangen tragen und ohne schrille Spoilerschürzen aus Kunststoff auskommen. Doch auch die späten Serien haben ihre Vorzüge, denn dank elektronischer Einspritzung stieg die Leistung kontinuierlich, während der Verbrauch sank. Am Ende entscheidet der persönliche Geschmack – im Zweifelsfall auch die Verfügbarkeit.

Von

Lukas Hambrecht