Mercedes 300 SD Turbodiesel
Fast 20 Zentimeter tragen die US-typischen Sicherheits-Stoßstangen vorn und hinten auf.
Bild: H. Almonat
Einer der berühmtesten S-Klassen-Fahrer der 70er trug einen weißen Cowboyhut, darunter ein fieses Wohlstands-Grinsen: Kein Texaner ist Ende der 1970er-Jahre so berühmt wie J. R. Ewing. 357 Folgen lang macht der Antiheld der Erfolgsserie "Dallas" auch deutsche Serienfans mit intriganten Ölgeschäften vertraut – und kommt damit richtig gut an. Vielleicht lag es an seinem Auto: Der silbergrüne 280 SE (W 116) trägt zwar typisch amerikanische Glotzaugen und Stoßfängerlippen. Doch er ist ein Mercedes, eine S-Klasse, ein Auto also, das zwischen Flensburg und Friedrichshafen größten Respekt genießt – egal, wer am Steuer sitzt. Dabei ist der 280er eigentlich der falsche Wagen für Turbo-Kapitalist J.R. Ein 300 SD stünde ihm besser. 1978, als die erste "Dallas"-Staffel anläuft, baut Daimler-Benz den ersten Turbodiesel-Pkw der Welt in Serie. Ihn hätte der Fiesling beinahe direkt am Bohrturm betanken können.
Mercedes 300 SD Turbodiesel
1978 baut Daimler-Benz mit dem 300 SD den ersten Turbodiesel-Pkw der Welt in Serie.
Bild: H. Almonat
Dass Daimlers Diesel-Dompteure einen ihrer "Oelmotoren" ausgerechnet in die S-Klasse pflanzen, erscheint damals so schräg wie heute. Denn rustikales Nageln ist eine Disziplin, die vor allem der Strich-8 bestens beherrscht. Seit 1974 schüttelt der 240 D 3.0 ganze 80 PS aus seinen fünf Zylindern, genauso viele sind es ab 1976 auch im 300 D (W 123). Für einen Selbstzünder damals beachtlich. Doch der Motor mit dem internen Kürzel "OM 617" kann noch mehr: 1976 leistet er in der Rekordflunder C 111/II dank Turbolader, drei Bar Ladedruck und Ladeluftkühler 190 PS, zwei Jahre später werden es im C 111/III sogar 230 PS sein. Auf dem Hochgeschwindigkeitsoval in Nardò (Italien) reicht das für über 300 km/h und neun Weltrekorde. Eine verstärkte Kurbelwelle und stabilere Lager verbessern die Standfestigkeit, Öl-Spritzdüsen im Kurbelgehäuse verschaffen speziellen Kolben zusätzliche Kühlung. Auch im 300 SD: Sein auf 125 PS abgespeckter Rekordmotor heißt OM 617 A. Doch nur US-Käufer bekommen ihn. Dank dafür gebührt der Umweltpolitik in Washington: Seit 1975 ist durch die "Corporate Average Fuel Economy" ein maximaler Flottenverbrauch festgelegt, der auf die Modellpaletten der Autohersteller Anwendung findet – und je nach Marktanteil unterschiedlich ausfällt. Mercedes muss ihn verringern, denn allein im Jahr 1976 verkaufen die Stuttgarter über 43.000 Fahrzeuge an Kunden in den USA.

Viel Power ohne schlechtes Gewissen

Mercedes 300 SD Turbodiesel
Der Turbolader versteckt sich unterm Luftfilter auf der Auslassseite.
Bild: H. Almonat
So kommt es zu einem – wenn auch nur wenige Jahre währenden – Aufglühen des Selbstzünders in der Diesel-Diaspora Amerika. Der 300 SD läuft für dortige Verhältnisse flotte 165 Spitze und nippt dabei im Schnitt "nur" 14 Liter Diesel aus dem Tank. J.R.s 280 SE genehmigte sich deutlich mehr Sprit. Viel Power ohne schlechtes Gewissen also – das lässt mancher Ami sich gern 26.265 Dollar kosten. Das ist so teuer, wie es klingt: Einen Cadillac Eldorado gibt es schon für 14.000 Dollar weniger. Dabei steckt auch amerikanische Technik im SD: Die serienmäßige Klimaautomatik etwa liefert Chrysler zu (wie auch für europäische S-Klassen), der Turbolader kommt von Garrett aus Kalifornien. Nur eines gibt es 1978 noch nicht überall, wie ein Tester des Magazins "Popular Mechanics" feststellen muss, als er mit einem SD von der West- an die Ostküste fährt: "Nehmen Sie unbedingt eine Liste von Tankstellen mit, die Diesel-Kraftstoff verkaufen. Und erwarten Sie bloß keine bevorzugte Behandlung an den Zapfsäulen; manche von ihnen sind mit 'Trucks only‘ markiert und stehen meistens in einer riesengroßen Ölpfütze." Europäer sind angesichts eines W 116 auf sanftes Säuseln konditioniert. Den 300 SD empfinden sie als S-Klasse mit Keuchhusten.

Der schwere SD hat den Turbo bitter nötig

Mercedes 300 SD Turbodiesel
Auf die Lenksäule des 1980er 300 SD passt nur ein seltenes W 116-Lenkrad der letzten Jahrgänge – oder eins vom frühen W 126.
Bild: H. Almonat
Bis auf die Misstöne unter der Haube ist alles wie sonst: die Präsenz erzeugende und dennoch filigrane Linienführung. Und die gelöste Haltung am Steuer, mit der Gewissheit, dass eine sanfte Berührung mit den Fingerspitzen völlig reicht, um das Schiff zu einer Kursänderung zu bewegen. Vorglühen: Ein letzter Moment der Ruhe, bevor der Diesel mit steinernem Taxigeräusch losschlägt. Dank guter Dämmung ist im Innenraum davon wenig zu spüren, im Rückspiegel allerdings formt sich eine fette Rußwolke. Weil dem Diesel im Leerlauf die Kraft fehlt, verfügt das 300-SD-Getriebe über eine elektronische Schaltung, die die Automatik bei getretener Bremse in die zweite, zum Anfahren aber in die erste Stufe schalten lässt, um schneller auf Touren zu kommen. Danach erfordert es Gewöhnung, mit dem rechten Fuß auf die Schaltpunkte des Getriebes zu reagieren: Einfach nur das Pedal zu streicheln, wie bei der S-Klasse sonst üblich, genügt nicht. Der schwere SD hat den Turbo bitter nötig. Aber auch wenn der Lader mit vollem Druck bläst, ackert sich der Diesel-Benz nur stoisch das Drehzahlband hinauf. Der Blick in den Rückspiegel verrät jetzt, warum J.R. keinen SD fuhr: Er wäre der Kamera davongeschlichen und in seiner eigenen Nebelbank verschwunden.
Technische Daten
Mercedes 300 SD Motor: Reihenfünfzylinder-Diesel, vorn längs, Abgas-Turbolader • eine obenliegende Nockenwelle, über Kette angetrieben, zwei Ventile pro Zylinder, mechanische Einspritzung • Hubraum 2998 ccm • Leistung 85 kW (115 PS) bei 4200/min • max. Drehmoment 235 Nm bei 2400/min • Antrieb/Fahrwerk: Vierstufenautomatik • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung, vorn an Doppelquerlenkern und Schraubenfedern, hinten Diagonal-Pendelachse mit Schräglenkern und Schraubenfedern, rundum Gasdruckstoßdämpfer und Drehstab-Stabilisatoren • Reifen 185 HR 14 • Maße: Radstand 2865 mm • L/B/H 5220/1870/ 1425 mm • Leergewicht 1815 kg • Fahrleistungen/ Verbrauch: 0–100 km/h in 17 s • Spitze 165 km/h • Verbrauch 10–15 l Diesel pro 100 km • Tank 82 Liter Neupreis: 26.265 US-Dollar (1980)
Historie
Zuverlässig, robust, gut für eine Million Kilometer: Ein Mercedes mit Dieselmotor gilt über Jahrzehnte als unverwüstliches Arbeitsgerät von Taxifahrern und Landwirten. Schon 1936 präsentiert die Marke den 260 D und erkämpft sich mit ihm schnell die Marktführerschaft. Fortan sind Diesel-Pkw fester Bestandteil der Stuttgarter Modellpalette. Über die Mittelklasse kommen sie aber bis zum Erscheinen des 300 SD auf der IAA 1977 nicht hinaus. In drei Jahren verkauft sich der dem US-Markt vorbehaltene, selbstzündende W 116 stolze 28.634-mal. Das ermutigt Mercedes, ab 1980 auch den Nachfolger W 126 als 300 SD anzubieten, nun mit 125 PS. Er findet – nach wie vor exklusiv in Übersee – 78.725 Käufer, bis 1985 der 300 SDL Turbo erscheint. Den Fünfzylinder ersetzt nun ein Dreiliter-Sechszylinder (OM 603) mit 150 PS, zudem ist der Turbo-Nagler nur noch mit langem Radstand lieferbar. Deutsche S-Klasse-Kunden müssen sich bis 1993 gedulden: Erst der W 140 ist mit dem OM 603 zu haben, als S 350 Turbodiesel um 27 PS erstarkt.
Plus/Minus
Mercedes 300 SD Turbodiesel
Der 300 SD passt in vielerlei Leben: Familienväter können ihn rechtfertigen, Sammler freuen sich über seine Geschichte.
Bild: H. Almonat
Der 300 SD mag ein Exot sein, doch er passt in vielerlei Leben: Familienväter können ihn vor der Haushaltskasse rechtfertigen, Sammler freuen sich über seine besondere Geschichte. Doch zuerst mal muss sich ein guter SD finden. Zu den allgemeinen Schwachpunkten der Baureihe W 116 (Rost, Risse durch UV-Strahlung im Armaturenbrett, poröse Dichtungen) gesellt sich die bange Frage nach der Funktion des Turbos. Faustregel: Kommt der Wagen nicht mehr recht vom Fleck, ist der Lader defekt und muss von einer Spezialfirma überholt werden. Richtig unangenehm wird es, wenn die Klimaautomatik nicht funktioniert. Das kann nach längerer Standzeit der Fall sein, wenn das Regulierventil festgeht und eine Kettenreaktion an Fehlern auslöst. So eine S-Klasse ist komplex – und so steht am Ende der Suche nicht selten ein Kompromiss wie das Foto-Auto: nicht ganz original, aber dafür technisch und optisch in Ordnung. Und heute muss man angesichts der Diesel-Diskussion damit leben, das der schöne Benz hinten unschönen Ruß und NOx einen alten
Ersatzteile
Nur der 300 SD besaß aus Gründen der Gewichtseinsparung serienmäßig Motor- und Kofferraumhauben aus Alublech. Die sind bei W 116-Fahrern gefragt – und deshalb kaum zu bekommen. Ebenfalls Mangelware, wie bei allen S-Klassen: Teile für die Innenausstattung sowie gute, gebrauchte Armaturenbretter ohne Hitzerisse. Abgesehen davon lässt sich aber auch ein 300 SD immer wieder fit machen, die meisten Verschleißteile gibt es noch direkt vom Hersteller.
Marktlage
Die Suche nach einem 300 SD kann länger dauern. Das Angebot ist für Mercedes-Verhältnisse extrem gering, denn nur wenige SD verblieben in Europa. Sie sind meist aber die beste Wahl: Pfusch ist bei USA-Reimporten an der Tagesordnung. Die aufgerufenen Preise sind daher nicht immer angemessen.
Empfehlung
Lassen Sie es ruhig und mit Bedacht angehen. Kaufen Sie bloß keinen 300 SD blind in den USA, egal wie günstig die Gelegenheit und/oder der Dollarkurs gerade sein mögen. Und sollten Sie die Wahl haben: Entscheiden Sie sich immer für das originalere Fahrzeug mit der besseren Substanz, denn eine mittelprächtige 116er-S-Klasse neu aufzubauen, lohnt sich noch immer nicht.