Was nicht umstritten ist, ist auch nicht sonderlich interessant, fand schon der alte Goethe. Recht hatte er. Zumal wenn wir seine Weisheit auf das Mercedes /8-Coupé anwenden. Sollen wir? Bitte sehr!
Bild: G. Sternenfels
Mal ehrlich: Gefällt Ihnen das W 114-Coupé? Oder ist es Ihnen mit seinem niedrigen Dach, den breiten C-Säulen und dem wuchtigen Heck nicht stimmig genug? Womöglich auch zu schnörkellos im Vergleich zum W 111-Oberklasse-Coupé, über dessen Innenraum sich das Dach kleidsam wie eine Tweedmütze spannt, mit Panorama-Heckscheibe zum Abschluss? Dann tun Sie dem zweitürigen /8 unrecht, denn er ist ein Auto wie ein Block Carrara-Marmor: geradlinig, aus dem Vollen gefräst. Das jedoch schockierte Fachpresse und Publikum schon bei der Premiere der W 114/115-Limousine anno 1968 (der Begriff "/8" bezeichnet das Premierenjahr).
Dank ihres Fahrwerks mit Schräglenker-Hinterachse fahren sich /8-Limousinen und -Coupés durchaus agil.
Bild: G. Sternenfels
Während Mercedes schwäbisch-trocken von einer "Neuen Generation" in der Mittelklasse sprach, gab ein Boulevardblatt mit der Schlagzeile "Opas Mercedes ist tot" dem Volkszorn eine Stimme – und charakterisierte den neuen Mercedes mit nur vier Wörtern so treffend, wie es ein Loriot-Bonmot nicht besser könnte. Im Gegensatz zum Vorgänger, der (kleinen) Heckflosse, wirkte der /8 auf nicht wenige Mercedes-Fans anfangs so unschick wie ein Che-Guevara-T-Shirt unter einem Blazer mit Goldknöpfen. Warum bloß? Im Grunde genommen ist der /8 stilistisch ein geschrumpfter W 108. Bei beiden beträgt der Radstand 2750 Millimeter. Allerdings stutzen die Mercedes-Designer unter der Federführung von Paul Bracq die vorderen und hinteren Überhänge. 14 Jahre vor dem 190er (W 201) entsteht so ein Vorläufer des Kompakt-Mercedes. Beim /8-Coupé ist von "kompakt" allerdings wenig zu spüren. Bei einem Leergewicht von rund 1400 Kilo drückt ein 250 CE, wie er hier zu sehen ist, seine 14-Zoll-Räder mit Nachdruck auf den Asphalt. Wer den großen Heckdeckel öffnet und den zwar flachen, aber sage und schreibe 610 Liter schluckenden Kofferraum geschickt belädt, kann locker mit der Familie in den Sommerurlaub aufbrechen. Das zulässige Gesamtgewicht liegt bei 1900 Kilogramm, und auf der Rücksitzbank reisen selbst Erwachsene bequem.
Weniger ist mehr: kurzer Griff am Kofferraumdeckel, ungeriffelte Heckleuchten und zierliche Außenspiegel beim Erstserien-/8.
Bild: G. Sternenfels
Hinzu kommt das sehr gute Raumgefühl, einer der entscheidenden Pluspunkte des /8-Coupés. Das im Vergleich zur Limousine um 45 Millimeter niedrigere, mit zwei Chrom-Zierleisten geschmückte Dach stülpt sich beinahe so luftig wie beim Pagoden-SL (klar, auch ein Bracq-Entwurf) über den Fahrgastraum. Um das Hüftgold am Hinterteil dezent zu kaschieren, haben die Mercedes-Stilisten tief in die Trickkiste gegriffen. Anders als beim Nachfolger C 123, dessen Radstand im Vergleich zur Limousine um 85 Millimeter gekürzt wurde, war beim W 114-Coupé Feinarbeit im Detail gefragt. Rahmenlose, voll versenkbare Seitenscheiben, sanft auslaufende C-Säulen, durchgehende Zierleisten an den Flanken und eine bis zu den hinteren Radhäusern herumgezogene Heckstoßstange ziehen den Zweitürer geschickt in die Länge. Auch der sanfte Knick in den hinteren Seitenfenstern. Wir finden ihn später beim SLC (C 107) wieder. Was die Fahrwerktechnik betrifft, unternehmen die Mercedes-Ingenieure endlich einen großen Schritt in die Zukunft. Als erster Serien-Mercedes verfügt der /8 über eine Schräglenker-Hinterachse, im Jargon der Stuttgarter "Diagonal-Pendelachse" genannt. Im Vergleich zum Flossen-Vorgänger mit Eingelenk-Pendelachse, dessen Heck beim Bremsen eine solche Unruhe stiftet, als sei ihm eine Horde revoltierender Studenten auf den Fersen, zieht ein /8 nahezu unbeeindruckt seine Bahn. Noch heute lässt sich ein technisch einwandfreies Exemplar wie unser Foto-Wagen, der 1971er 250 CE von Joachim Fernes aus dem saarländischen Homburg, durchaus sportlich bewegen. Kurven nimmt der /8 viel bissiger als zum Beispiel ein schwereres W 111-Coupé, ohne dafür größere Abstriche beim Fahrkomfort einzufordern: Bodenwellen und Schlaglöcher pariert das straffe Fahrwerk mit viel Gleichmut, nur grobe Unebenheiten vermögen es für einen kurzen Augenblick aus der Ruhe zu bringen.
Das /8-Coupé hat Rund-Instrumente statt Vertikal-Tacho wie bei der Flosse.
Bild: G. Sternenfels
Joachim Fernes’ 250 CE hat das selten bestellte Fünfgang-Schaltgetriebe, das zwar als anfällig gilt, aber gerade auf der Autobahn Trumpf ist: Der vierte Gang ist direkt übersetzt, während der fünfte als Schongang auf Drehzahl und Durchschnittsverbrauch drückt. Denn der Reihensechszylinder-Einspritzmotor mit elektronisch geregelter Bosch D-Jetronic legt bei forscher Fahrweise Trinksitten an den Tag wie so mancher Stuttgarter beim Besuch der Volksfeste auf dem Cannstatter Wasen. Mehr als 15 Liter pro 100 Kilometer sind keine Seltenheit – der 65-Liter-Tank verlangt entsprechend häufig nach einer Neubefüllung. Wer ihn wenig fährt, sieht dem mittelblauen 250 CE seine Trinksitten heute nach. Rund 180.000 Kilometer hat er binnen 42 Jahren zurückgelegt, im Schnitt keine 4300 pro Jahr. Das Leder im empfindlichen Farbton Pergament ist noch das erste, drei Vorbesitzer haben kaum Abnutzungsspuren hinterlassen. Joachim Fernes hat den 250er behutsam restauriert und ihm dabei unter anderem auch eine neue Lackierung spendiert. Das elektrische Schiebedach gleitet so stabil wie eine Stahlplatte durch seine Führungen. Fehlt bloß noch James Last im Radio, und der Sound der ausklingenden 60er- und frühen 70er-Jahre ist perfekt. Als weitere Extras hat sich der Erstbesitzer neben Fünfgangschaltung und Leder zum Beispiel Colorglas, heizbare Heckscheibe, Kopfstützen vorn, ein abschließbares Handschuhfach und eine Mittelarmlehne gegönnt. Feine Details für ein feines Coupé.
Der 250 CE ist der erste Serien-Mercedes mit elektronisch geregelter Benzineinspritzung (Bosch D-Jetronic).
Bild: G. Sternenfels
Dabei war schon der Grundpreis eines 250 CE alles andere als moderat: 20.369 Mark kostete das Coupé 1971, die 250er-Limousine – ausschließlich mit Vergasermotor erhältlich – stand im selben Jahr mit 17.039 Mark Basispreis in der Liste. 3330 Mark Differenz, das entsprach 1971 mehr als drei durchschnittlichen Monatslöhnen – viel Geld für einen /8 mit nur zwei anstatt vier Türen. Die Besserverdienenden der frühen 70er blätterten trotzdem gern ein paar Scheine mehr auf den Tisch der Mercedes-Verkäufer, um ihre Waschbeton-Einfahrt mit einem 250 CE zu schmücken. Das Sechszylinder-Coupé war ein Auto, mit dem sich Wohlstand zeigen lässt, ohne allzu neidisches Getuschel jenseits des Jägerzauns zu provozieren. 1971 ist das zweitbeste Verkaufsjahr des Modells 250 CE, 5898 Exemplare rollen im Werk Sindelfingen vom Band. Bis Produktionsende 1972 bringt es der Zweitürer auf 21.787 Stück – keines der insgesamt 67.048 /8-Coupés wird häufiger gebaut. Auch außerhalb Deutschlands traf Mercedes den Nerv der besser situierten Kundschaft: Fast zwei Drittel aller /8-Coupés gingen in Exportmärkte. Mal ehrlich: Eigentlich hat Mercedes mit dem /8 doch alles richtig gemacht. Im Unruhejahr 1968 wirkte er wie ein Felsblock in der Brandung der Zeit. Und diejenigen Alt-68er, die einst mit Farbbeuteln auf ihn zielten, machten die (Diesel-)Limousine nur wenige Jahre später zum Inbegriff des alternativen Szene-Autos. Die meisten Coupés bleiben davon verschont – und viele Jahre in erster Hand. Auch das macht sie interessant.
Historie
Was für die meisten Klassiker gilt, trifft auch auf das /8-Coupé von Mercedes zu: Das teurere, im Zustand bessere Auto ist auch der bessere Kauf.
Bild: G. Sternenfels
Zehn Monate nach der Vorstellung der /8-Limousinen im Januar 1968 schiebt Mercedes im November 250 C und CE nach (130/150 PS). Zum ersten Mal gibt es von einer Mercedes-Mittelklasse-Limousine eine Coupé-Version. Die Bodengruppe samt Fahrwerk und Antriebsstrang – inklusive der neuen Schräglenker-Hinterachse – wird vom 250 übernommen. Zwei Türen, flachere Windschutzscheibe, versenkbare Seitenfenster, um 45 Millimeter gechopptes Dach – fertig ist das Coupé. Besonderheit beim 250 CE: Er ist der erste Serien-Mercedes mit elektronisch geregelter Kraftstoffeinspritzung. Im April 1972 erscheinen 280 C und CE (160/185 PS) mit neuem DOHC-Reihensechszylinder. Der 250 CE entfällt, der 250 C wird mit einem gedrosselten 2,8-Liter-Vergaser-R6 aus dem W 108 ausgerüstet (eine Nockenwelle, 130 PS). 1973 spendiert Mercedes Limousinen und Coupés eine große Modellpflege. Unter anderem finden neue Außenspiegel, geriffelte Rückleuchten und ein breiterer Kühlergrill Verwendung, die Innenausstattung wird modernisiert. Bis August 1976 werden mehr als 67.000 W 114-Coupés gebaut.
Technische Daten
Mercedes 250 CE Motor: Reihensechszylinder, vorn längs • eine obenliegende Nockenwelle, über Duplexkette angetrieben, zwei Ventile pro Zylinder, elektronisch geregelte Saugrohreinspritzung (Bosch D-Jetronic) • Hubraum 2496 ccm • Leistung 110 kW (150 PS) bei 5500/min • max. Drehmoment 211 Nm bei 4500/min • Antrieb/Fahrwerk: Viergang- Schaltgetriebe (auf Wunsch Vierstufenautomatik, ab 1969 auch Fünfgang-Schaltgetriebe) • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung, vorn Doppelquerlenker, hinten Diagonal-Pendelachse, Schräglenker; vorn und hinten Schraubenfedern, Gummi-Zusatzfedern, Drehstab-Stabilisator • Reifen 175 H 14 (6 PR) • Maße: Radstand 2750 mm • L/B/H 4680/1790/1395 mm • Leergewicht 1390 kg • Fahrleistungen/Verbrauch: 0–100 km/h in 10,5 s • Spitze 190 km/h • Verbrauch 12–17 l Super pro 100 km • Neupreis: 20.369 Mark (1971).
Plus/Minus
Dank ihres Fahrwerks mit Schräglenker-Hinterachse fahren sich /8-Limousinen und -Coupés durchaus agil. Vor allem frühe Modelle (vor 1973) sind, was das Design betrifft, die perfekten Alt-68er. Die Coupés, die ausschließlich mit Sechszylindern bestückt sind, genehmigen sich bei forscher Fahrt aber schon mal 15 Liter und mehr. Die Technik ist robust – was man von der Karosseriesubstanz keinesfalls behaupten kann. Erst im Spätsommer 1971 spendierte Mercedes den /8ern eine Hohlraumversiegelung, und auch die war nach heutigen Maßstäben ein Tropfen auf das heiße Blech. Und so gibt es praktisch nichts, was nicht rosten kann – von Schiebedach-Kanten oben bis zu Quer- und Längsträgern unten. Bisweilen verschlimmern mies reparierte Unfallschäden das Elend. Bei Coupés sollte man dem Übergang von der Tür zum hinteren Seitenteil besondere Aufmerksamkeit schenken. Hier lauern im unteren Bereich üble Rostnester, wenn etwa die Wasserablauflöcher in der Sicke über der Chromleiste (Modelle bis 1973) dreist zugespachtelt wurden. Auch hinter der Chrom-Seitenscheibenverkleidung an der C-Säule kann die rotbraune Pest wüten. Ganz wichtig ist eine gut erhaltene Innenausstattung, denn neuwertigen Ersatz gibt es nicht mehr.
Marktlage
Sehr gute /8-Coupés, im besten Fall mit Original-Scheckheft, allen Unterlagen ab dem Kauf und einer Laufleistung um 100.000 Kilometer, können deutlich über 15.000 Euro kosten. Wem ein in der Substanz gutes Exemplar genügt, sollte mit Tarifen zwischen 7000 und 10.000 Euro kalkulieren. Die Zahl der Extras treibt den Preis.
Empfehlung
Was für die meisten Klassiker gilt, trifft auch auf das /8-Coupé von Mercedes zu: Das teurere, im Zustand bessere Auto ist auch der bessere Kauf. Allerdings sind Top-Exemplare oft in fester Hand. Vor allem die filigranen frühen Modelle (bis 1973) sind perfekte 60er-Jahre-Zeitkapseln. Ein schöner 250 C – das vergaserbestückte Urmeter aller /8-Coupés – ist deshalb durchaus eine Sünde wert.