Lancia verfolgte die raffinierte Antipremium-Strategie! Wo andere Marken über Jahrzehnte hecheln, ins Edel-Segment zu klettern, macht es Lancia genau umgekehrt: Beine hochlegen, aufs gewachsene Premium pfeifen, denn ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Die Lancia-Leute müssen heute keine eigenen Fahrzeuge mehr entwickeln und können sich in Zukunft gar die Mühe sparen, welche zu bauen, denn das tut ja alles Chrysler für sie, außerdem Arbeiter in Polen. Dolce vita in Italia. Ist doch wunderbar!
Lancia Flaminia
Mit klaren, geraden und kantigen Linien schuf Pininfarina einen völlig neuen Stil.
Bild: C. Bittmann
Früher war das anders. Da war la vita noch hart, die Lancia-Mitarbeiter gaben alles, um ganz oben zu sein. 1957 kam der Flaminia, äh, es heißt natürlich die Flaminia, auf den Markt, ein Kaliber fast wie ein großer Maserati heute, damals jedenfalls moderner als ein Mercedes. So einen Lancia fuhren Industrielle und Filmgrößen, Star-Anwälte und Kardinäle. Und auch der italienische Staatspräsident ließ sich vier gestretchte und landaulierte Flaminia bauen, die noch heute durch Rom paradieren. Sensationell war die avantgardistische Trapezform. Das heißt, der Wagenkörper sah von Bug bis Heck sehr geradlinig aus, was auch eine wunderbare Rundumsicht ermöglicht. Das sollten sich heutige Designer mal angucken. Pininfarina-Gründer Battista Farina war so begeistert von seiner neuen Glamour-Geometrie, dass er sie für andere Projekte recycelte. Neben der Lancia Flaminia sehen der Peugeot 404, der Austin Cambridge/Morris Oxford und der Fiat 1800/2100/2300 daher wie Modelle derselben Marke aus. Nach den mopsigen Formen der frühen Fünfziger fanden andere Firmen die geraden Linien ebenfalls modern, ohne jedoch Pininfarinas Klasse zu erreichen: Mercedes mit der Heckflosse W 110/111, Borgward mit dem P 100, selbst der Trabant 601 folgten den feinen Strichen Italiens. Übrigens fuhr Maestro Battista aus Überzeugung die Flaminia als Coupé bis zu seinem Tod 1966 selbst.

Dalli Dalli: Lancia Delta Integrale  

Lancia Flaminia
Die Raffinesse des Hecks liegt in den erhöhten Kanten der Kotflügel. Sie reichen bis ins Dach und rahmen Heckfenster und Kofferraum ein.
Bild: C. Bittmann
Die Limousine – die Italiener nennen so etwas übrigens Berlina, nach einer Kutschenart aus Berlin statt wie wir nach einer aus dem französischen Limousin – wurde nach der Via Flaminia getauft, einer alten Römerstraße. Das hatte Tradition, es gab schon die Modelle Appia und Aurelia, später kamen Flavia und Fulvia. Die Aurelia war die Vorgängerin der Flaminia und eine Legende. Im Verein mit den kostspieligen Rennsport-Aktivitäten konnte sie die Pleite der Firma jedoch nicht abwenden, denn sie war heftig overengineered, also viel zu gut konstruiert. Weshalb Gianni Lancia 1955 an den Zementunternehmer Carlo Pesenti verkaufen musste. Die Flaminia übernahm daher aus Kostengründen viel von der Aurelia: V6-Motor – der einzige weltweit in Großserie damals, zudem aus Aluminium –, Transaxle-Bauweise mit verblocktem Getriebe, Differenzial und Kupplung, De-Dion-Hinterachse – all das stammte im Prinzip vom Vorgänger, wurde aber überarbeitet. Die per Unterdruck beweglichen Ausstellfenster hinten, die optionale Klimaanlage, die modernere, wenn auch simplere Vorderachse, die Wischer auf der Heckscheibe und auch innen gegen das Beschlagen (!) waren hingegen Neuheiten. In der Serie 2 gab es dann sogar vier Scheibenbremsen. Dafür fielen die skurrilen Heckscheibenwischer weg, die bei einem Stufenheck außen ohnehin nicht dringend nötig sind, und innen hielten dann Heizdrähte den Durchblick frei, genau wie heute.

Lancia powered by Ferrari: Lancia Thema 8.32

Lancia Flaminia
Glänzende Oberflächen, viel Metall – so sah das Cockpit bis zum Ende aus.
Bild: C. Bittmann
Erstaunlich ist aber die Schaltung. An der merkt man, dass Lancia komplizierte Lösungen liebte: Lenkradschaltung bei einem Transaxle-Konzept, also Getriebe an der Hinterachse! Trotz der vielen Gelenke schaltet sie sich butterweich. Die Flaminia war ein Ingenieurauto, und stilistisch lag sie sowieso ganz vorn. Das traf allerdings auch auf den Preis von anfangs 23.120 Mark zu (1959 für die Berlina 2,5 L mit 100 PS), später wurde der Preis auf 18.980 Mark reduziert. Den 220 SE mit 120 PS verkaufte Mercedes damals für 14.950 Mark. Daher fanden bis 1970 nur 3943 Flaminia zum Kunden. Von den diversen Coupés mit Karosserien von Pininfarina, Touring und Zagato entstanden hingegen mit 7841 Stück etwa doppelt so viele, was ja schon ziemlich ungewöhnlich ist. Luxus-Zweitürer durften als Spielzeuge für Millionäre eben mehr kosten, wuchtige 26.850 Mark für das Pininfarina-Coupé schreckten wenige Kunden. Heute sind Berlina zwar gesucht, aber noch mehr die Coupés. Daher opferten Restaurierer auch schon mal kerngesunde Viertürer, wenn sie Coupé-Teile brauchten.

Italienische Schieflage: Lancia Gamma 2500

Lancia Flaminia
Die erste Serie hatte bloß 100 PS und Trommelbremsen. Daher ist die spätere Version mit 2,8-Liter-Motor und 129 PS sicher die beste Wahl.
Bild: C. Bittmann
Mit 100 PS war die Flaminia anfangs gerade ausreichend motorisiert (Spitze 160 km/h), weshalb später stärkere Varianten kamen, in der Serie 2 mit 108, in der Serie 3 ab 1964 mit 129 PS, dabei stieg der Hubraum von 2,5 auf 2,8 Liter, wie in unserem Testwagen, aus dem Jahr 1965. Damit lief die Berlina 170 Sachen. Der gute Geschmack Italiens zeigt sich nicht nur in den klaren, harmonischen Linien außen, auch innen strahlt der Wagen noch heute feine Noblesse aus. Unsere Foto-Berlina ist mit beigefarbenem Tuch ausgestattet. Sie glänzt mit sauberem Finish und eleganten Details wie integrierten Sitztaschen hinten, hübschen Fensterkurbeln und zahllosen Aschenbechern. Was hat man damals gequarzt! Nicht zu vergessen sei das Chrom ringsum. Türausschnitte, Einstiegsleisten, Hebel, Schalter, Schmuckblenden, Zierleisten, Beschläge, eine glitzernde Orgie. Erst 1970, nach 14 Jahren als Flaggschiff des Hauses und als Weltmaßstab für schöne Form, hatte Lancias Luxuswagen ausgedient. Fiat übernahm das Kommando vom Zementkönig und verzichtete gemäß der neuen Antipremium-Strategie lange, lange auf einen mondänen Viertürer.

Technische Daten

Lancia Flaminia 2.8 Motor: V6 vorn längs • zentrale Nockenwelle, über Stoßstangen angetriebene hängende Ventile, ein Solex-Doppelfallstrom- Vergaser • Hubraum 2775 ccm • Leistung 95 kW (129 PS) bei 5000/min • max. Drehmoment 229 Nm bei 2500/min • Antrieb/Fahrwerk: Viergang-Schaltgetriebe an der Hinterachse (Transaxle) • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung, vorn an Doppelquerlenkern und Schraubenfedern, hinten De-Dion-Achse an Längsblattfedern, Panhardstab, Teleskopstoßdämpfer rundum, Schnecken-Rollen-Lenkung, hydraulische Scheibenbremsen rundum • Reifen 185x400 • Maße: Radstand 2870 mm • L/B/H 4855/ 1750/1460 mm • Leergewicht 1560 kg • Fahrleistungen/Verbrauch: 0–100 km/h in 16,0 s • Spitze 170 km/h • Verbrauch 14,5 l S pro 100 km • Neupreis: 18.980 Mark (1965).

Historie

Lancia Flaminia
In Deutschland laufen zwischen acht und zwölf Flaminia Berlina, viel exklusiver geht es also nicht.
Bild: C. Bittmann
Die Autos von Lancia sind bis in die fünfziger Jahre immer auch technologische Vorreiter, dazu sind sie makellos verarbeitet. Kurz, Lancia ist verdientermaßen die Marke der Noblen und Reichen. Doch Firmengründer und Technik-Guru Vincenzo Lancia stirbt 1937 an einem Herzinfarkt, sein Sohn Gianni übernimmt das Ruder. In der Nachkriegszeit ist wenig Geld da, zudem investiert Gianni viel in den Grand-Prix-Sport, bis er trotz des Erfolgs der Aurelia die Firma an einen reichen Zementfabrikanten verkaufen muss. In dieser Phase entwirft Pininfarina die Designstudien Florida 1 und 2, die mit ihrer völlig neuen Formensprache genau den damaligen Zeitgeist treffen. Mit nur geringen Änderungen entsteht daraus die Flaminia. Sie wird von 1957 bis 1970 gebaut. Noch eleganter sind die Coupé-Derivate von Pininfarina, Touring und Zagato. Als dann Fiat die kränkelnde Firma übernimmt, verzichteten die neuen Bosse zunächst auf eine Luxus-Limousine. Der nächste große Viertürer wird ab 1976 der Gamma, der aber längst nicht die Klasse der Flaminia besitzt, 1984 gefolgt vom Thema, dem Gemeinschaftsprojekt mit Fiat, Saab und Alfa Romeo.

Plus/Minus

In Deutschland laufen zwischen acht und zwölf Flaminia Berlina, viel exklusiver geht’s also nicht. Außerdem ist sie immer wieder eine Augenweide. Der Besitzer unseres Fotoautos erzählt von jahrzehntelanger Freude. Nachteile sind allerdings die dürftige Ersatzteillage und aufwendige Bauweise des Wagens, wenn auch ein geschickter Autoschlosser alter Schule das meiste reparieren kann. Die Bremsen allerdings sollte nur ein Flaminia-Spezialist anfassen. Der Alu-V6 gilt als robust, natürlich ist Rost bei Italienern immer ein Thema, weshalb ein solches Auto von Streusalz fernzuhalten ist. Probleme gibt es gelegentlich mit Italienimporten, bei denen der/die Vorbesitzer unveredeltes Leitungswasser ins Kühlsystem gefüllt haben. Das Aluminium der Motoren verträgt den Kalk nicht und zersetzt sich.

Ersatzteile

... sind selten, teuer und wenn, dann am ehesten in Italien zu finden, wo die meisten fuhren und auch heute noch zu kaufen sind. Lancia-Experten sitzen in der B&F Touringgarage in 53842 Troisdorf. Lancia selbst kümmert sich gar nicht. Da die Berlina so selten ist, lohnt sich der kommerzielle Nachbau von Teilen kaum. Quellen sind zum Beispiel Emporio Ricambi in Berlin (www. emporio-ricambi.de) und Cavallito in Turin (www.lanciaspares.com). Manche Teile werden auf Initiative Einzelner nachgefertigt und mithilfe des Flaminia-Registers Clubmitgliedern angeboten. Das wird allerdings meist kostspielig.

Marktlage

Der größte Flaminia-Berlina-Markt ist Italien. Sehr gute Exemplare kosten gut 20.000 Euro, viele nicht so gute aber auch. Bei Interesse kann das rührige Lancia Flaminia Register helfen. Interessanter ist der Markt der diversen Flaminia Coupés. Hier liegen die Tarife inzwischen deutlich höher, noch sind sie aber unterbewertet.

Empfehlung

Die erste Serie mit den drolligen Heckscheibenwischern ist gefragt, hat allerdings bloß 100 PS und Trommelbremsen. Daher ist die spätere Version mit 2,8-Liter-Motor und rund 129 PS sicher die beste Wahl. Da eine Vollrestaurierung sich wirtschaftlich kaum rechnet, sollte der Zustand der Karosserie und die Vollständigkeit der Teile über Kauf oder Verzicht entscheiden.

Battista Farina

Der Mann hat sogar seinen Namen umdesignt. Dem Spitznamen „Pinin“ (der Kleine) nahm er die Spitze, indem er sich offiziell als Pinin Farina anreden ließ und 1961 vom Staatspräsidenten schließlich die Genehmigung bekam, den Namen Pininfarina ganz amtlich zu tragen. Er war 1930 der Gründer der Karosseriefirma im Süden Turins und lieferte die legendärsten Entwürfe selbst, etwa den Cisitalia 202, den Alfa Romeo Duetto oder eben die Lancia Flaminia.