Autostadt um die Jahrhundertwende

Von Autostädten haben wir eine festgefügte Meinung. Vor unserem geistigen Auge erscheinen industrielle Zentren, riesige Werkshallen, Orte halt, in denen sich alles um das Rad dreht. Wir denken an Detroit oder Turin, an Stuttgart oder Wolfsburg. Städte, die zwar jeder kennt, aber nicht unbedingt gesehen haben muß. Weil sie nicht über das gewisse Etwas verfügen wie beispielsweise San Francisco oder Paris, wie Hamburg oder Berlin. Oder Genf.

Die mit 185.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der Schweiz am westlichen Ende des gleichnamigen Sees ist eine Reise wert. Wegen ihrer schönen Lage mit Blick auf die Alpen, aber auch aufgrund ihres mondänen Flairs. Hier residieren Banken von Weltruf und renommierte Chronometer-Manufakturen. Weltweite Organisationen haben ihre Zentralen in Genf – und Politiker treffen sich in der neutralen Schweiz gern zur Aushandlung weitreichender Verträge.

Doch Genf war schon in der Frühzeit des Automobils auch eine Autostadt. Bereits 1898 wird in Genf der Schweizerische Automobil Club (ACS) gegründet. Schon sieben Jahre später schnaufen fast 400 pferdelose Kutschen durch die Stadt – und damit mehr als im gesamten FRest der Schweiz.

Und es sind nicht nur ausländische Modelle, die über Straßen tuckern. In Genf bauen die Brüder Charles und Frédéric Dufaux eigene Automobile, und im benachbarten Biel produziert die Société Neuchâteloise d’Automobiles von Fritz Henriod. Da liegt es nahe, über eine Leistungsschau des neuen Wirtschaftszweigs nachzudenken. Den Anstoß hierfür gibt Jules Mégevet, ein junger Genfer Ingenieur, Inhaber einer Zubehörfirma und Präsident der Schweizerischen Syndikalkammer der Fahrzeugbranche.

Das erste Budget: 1049 Franken

Am 13. Februar 1905 konstituiert sich das Komitee für erste nationale Autoausstellung, das zunächst die Finanzierung zu klären hat. Denn der Kasse der Syndikalkammer finden sich nur ganze 549 Franken. Immerhin subventioniert die Stadtkasse das Projekt mit weiteren 500 Franken, womit schon mal die Saalmiete gesichert ist.

Die Platzwahl fällt auf ein Wahllokal am Boulevard Georges-Favon, das mit 1200 Quadratmeter Fläche in etwa der Größe einer Tennishalle entspricht. Bei der Eröffnung am 29. April 1905 drängen sich darin 37 Aussteller – und die Festrede des ehrwürdigen Nationalrats Charles Forrer gipfelt in einer visionären Ansage: "Das Automobil wird dem Reisenden Unabhängigkeit bringen und eines Tages für jeden erschwinglich werden."

Das Publikum ist entzückt: Innerhalb von neun Tagen zählen die Aussteller 17.514 Besucher. "Jeder von ihnen spürte das Erwachen des schlummernden Automobilisten in seiner Brust", vermeldet das Fachjournal "L’Auto-Sport". Dagegen erregt sich "La Peuple", das Zentralorgan der Schweizer Sozialisten, über "den Benzingestank rund um das Wahllokal". Doch der kann die Freude der Organisatoren über einen Reingewinn von 15.000 Franken nicht trüben. Statt dessen beginnen Mégevet und seine Mannen sofort mit der Planung für das nächste Jahr.

1906 erweitern provisorische Anbauten die Ausstellungsfläche auf 2200 Quadratmeter, die Anzahl der Aussteller steigt auf 59. Trotz abgedeckter Plakate wegen nackter Brüste (siehe Foto) wächst die Besucherzahl um 50 Prozent, aber auch der Unmut regt sich erneut. Die linke Presse schreibt von "Mordsmaschinen, die das gute Volk wie Straßenköter überfahren", und findet immer mehr Anhänger. Das Resultat: 1907 zieht die Messe nach Zürich um – und erst 1911 wieder nach Genf. Doch das ist vorläufig das letzte Mal: Die autofeindliche Stimmung und der Erste Weltkrieg lassen den Reiz des Automobils fürs erste verblassen.

Internationale Aussteller locken Besucher

Erst 1923 ist die Zeit wieder reif für eine Neuauflage. Erstmals trägt die Ausstellung den vornehmen Titel "Salon de l’Automobile". Was auch eine Verbeugung vor den Ausstellern darstellt: Denn die Stars der Messe sind erstmals nicht die Schweizer Hersteller, sondern internationale Marken. Unter anderem geben sich Citroën, Fiat, Maybach und Rolls-Royce die Ehre und ziehen mehr als 30.000 Besucher an. Damit ist der nächste Salon gesichert – und der zieht neben noch mehr Ausstellern und noch größerem Publikumserfolg die Erkenntnis nach sich: Das Wahllokal hat ausgedient, ein größeres Etablissement muß her.

Gefunden wird es erneut in der Innenstadt, auf dem Gelände einer ehemaligen Eishalle am Boulevard du Pont d’Arve: 10.000 Quadratmeter sollten ausreichen, um auch den Platzbedarf der Zukunft zu decken, so glaubt man. Doch das Palais des Expositions, 1926 mit großem Pomp eingeweiht, ist schon drei Jahre später wieder zu klein.

Dafür rückt man dem Gestank zu Leibe: Ein eigens eingestellter Parfümeur flaniert mit einer Art Pflanzenspritze von Stand zu Stand, um die Aromen von Gummi und Öl, aber auch die Ausdünstungen des sich drängenden Publikums zu neutralisieren. 1934 müssen erstmals Besucher abgewiesen werden, mit 58 ausstellenden Marken übertrifft der Genfer Salon jetzt die Ausstellerzahlen von London und Brüssel.

Chrysler begeistert mit dramatischen Stunts

Die zentrale Lage in Westeuropa wirkt sich ebenso positiv aus wie die schrillen Darbietungen der Aussteller. 1935 beispielsweise erwirbt sich Chrysler große Sympathien beim Publikum mit einer dramatischen Stuntshow: Auf einer ans Ausstellungsgelände angrenzenden Wiese rattert ein furchtloser Testfahrer gegen diverse Hindernisse, prescht durch einen brennenden Zaun, beschleunigt auf sagenhafte 100 km/h und verreißt dann absichtlich das Lenkrad, um seine Darbietung mit einem furchterregenden Überschlag zu beenden. Unverletzt natürlich, der soliden Chrysler-Konstruktion sei Dank.

Fünf Jahre später ist für solche Späße kein Platz mehr. Die für den 1. März 1940 anberaumte Eröffnung des 17. Genfer Salons fällt nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ersatzlos aus. Erst 1947 wird der Salon wieder seine Tore öffnen.

Buchtip: "1905–2005: 100 Jahre automobile Fortschritte" – so lautet der sperrige Titel eines ansonsten höchst amüsanten Jubiläums-Bildbands. Auf 325 Seiten wird die Geschichte des Automobils unter spezieller Berücksichtigung des Genfer Salons erzählt und illustriert. Bestellungen nur unter www.salon-auto.ch. Preis: 90 sfr zuzüglich 27 sfr Versandkosten.