Abbiegeunfälle mit Lkw: Nachrüsten von Abbiegeassistenten
Warum rüstet ihr nicht alle nach?

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Einige Speditionen, Fuhr- und Bauunternehmen rüsten nach Abbiegeunfällen ihre Lkw nach, aber nicht alle. AUTO BILD fragte bei zehn Unfallverursachern nach, eine Antwort ist ein Skandal!
Zum Chef durchstellen will die Vorzimmerdame auf keinen Fall. "Wir müssen Transporte rauskriegen. Zur Beantwortung von Fragen haben wir keine Zeit", sagt die Frau forsch. Und fügt knapp hinzu: "Wir haben keine Zeit, uns damit zu beschäftigen." Hinter "damit" steckt ein Menschenleben. Am 23. Januar 2018 fährt eine 52-jährige Radfahrerin durch Berlin-Schöneberg. Ein Fahrer der Spedition BOS will gegen 6.35 Uhr von der Kolonnen- in die Hauptstraße rechts abbiegen, übersieht die Frau. Sie stirbt noch an der Unfallstelle.
Welche Konsequenzen wurden gezogen?

Edeka Südbayern begann bereits 2016 damit, Abbiegeassistenten einzubauen.
1500 Euro Zuschuss pro Assistent

Bei diesem Unfall mit einem Lkw in Münster kam 2015 eine 27 Jahre alte Frau ums Leben.
Ein Drittel weniger Tote möglich

In den Ländern der EU sterben jährlich rund 250 Radfahrer bei Abbiegeunfällen.
Abbiegeunfälle: diese Konsequenzen ziehen Fuhrunternehmen
BOS (Berlin): "Wir sagen gar nichts!"
DER UNFALL Berlin, 23. Januar 2018: Gegen 6.35 Uhr will der Fahrer der Spedition BOS am Kaiser-Wilhelm-Platz in Berlin-Schöneberg nach rechts in die Hauptstraße abbiegen. Dabei übersieht er eine 52 Jahre alte Radfahrerin. Die Frau stirbt.
DIE REAKTION "Verantwortung tragen" steht auf dem Todes-Lkw. Doch davon ist in der Praxis nichts zu spüren. AUTO BILD fragt den Firmenchef per E-Mail, ob Abbiegeassistenten nachgerüstet wurden, hakt per Telefon nach. Seine Assistentin: "Wir haben keine Zeit, uns damit zu beschäftigen." Verantwortung tragen? Das geht anders!
Otto Dörner (Hamburg): "Neuer Lkw nur noch mit Assistent"
DER UNFALL Hamburg, 30. Januar 2014: Die 18-jährige Käthe W. ist am Morgen auf dem Weg zur Schule. Um 8.08 Uhr will sie vom Mundsburger Damm in die Armgartstraße abbiegen. Ein Lkw der Entsorgungs-firma Otto Dörner erfasst die junge Frau beim Rechtsabbiegen. Käthe W. erliegt kurz darauf ihren Verletzungen.
DIE REAKTION Geschäftsführer Enno Simonis sagt, seine Firma beschaffe "seit einigen Jahren nur noch Lkw mit Kameraassistenten". Zudem tested Dörner verschiedene am Markt erhältliche Systeme. Müllfahrzeuge würden mit 360-Grad-Kameras bestellt, sämtliche Fahrer laufend extern wie intern geschult. Jeder Abbiegeunfall in Deutschland sei ein zusätzlicher Grund, "unsere Fahrer zu sensibilisieren".
Volker Mohr (Kaltenkirchen): "Wir stellen auf Abbiegeassistent um"
DER UNFALL Hamburg, 29. September 2017: Am Morgen will ein Kipplaster vom Sievekingplatz nach rechts auf den Holstenwall abbiegen, kollidiert mit einer Radfahrerin. Die 26-Jährige kommt mit dem Rettungswagen in die Klinik, überlebt schwer verletzt.
DIE REAKTION Firmenchef Volker Mohr aus Kaltenkirchen (Schleswig-Holstein) gibt an, in allen neu beschafften Lkw künftig Abbiegeassistenten einsetzen zu wollen. Vor allem natürlich aus Sicherheitsgründen. Aber auch, um seinen Fahrern etwas bieten zu können. Es sei schwer, gutes Personal zu bekommen. Ein sicherer Arbeitsplatz könne da ein Anreiz sein. Der Unfallfahrer hat die Firma verlassen – aber nicht wegen des Unfalls, sagt Mohr.
Joachim Jacobs (Hamburg): "Wir rüsten den ganzen Fuhrpark um"
DER UNFALL Hamburg, 7. Mai 2018: Der Tod einer 33-jährigen zweifachen Mutter im Stadtteil Eimsbüttel hat die ganze Stadt erschüttert. Ein Kühltransporter erfasst die Frau beim Rechtsabbiegen, als sie bei Grün auf dem Eppendorfer Weg die Osterstraße überquert. Die Pflegekraft war auf dem Weg zu einer Patientin.
DIE REAKTION Max Saara, Chef von Kühltransporte Joachim Jacobs, sagt: "Alle seit dem Unfall bestellten Lastwagen wurden mit Extra-Abbiegeassistenten bestellt. Also 360-Grad-Kamera, seitliche Sensoren, Warntöne für Fußgänger und Fahrradfahrer. Dieses
Abbiegesystem ist für zehn weitere Fahrzeuge vorgesehen, die alle im Stadtverkehr eingesetzt werden. Diese werden nach und nach verbaut."
Abbiegesystem ist für zehn weitere Fahrzeuge vorgesehen, die alle im Stadtverkehr eingesetzt werden. Diese werden nach und nach verbaut."
Entsorgungsbetriebe Essen: "Neufahrzeuge nur noch mit Kamera"
DER UNFALL Essen, 4. Juli 2018: Nach der Kollision mit einem Müll-Laster stirbt eine 31-Jährige, ihre Tochter wird schwer verletzt.
DIE REAKTION Ein Abbiegeassistent hätte diesen schweren Unfall vermutlich nicht verhindert – er geschah nicht beim Rechts-, sondern beim Linksabbiegen. Dennoch reagieren die Entsorgungsbetriebe Essen. Sprecherin Bettina Hellenkamp: "Wir haben diverse Systeme unterschiedlicher Art getestet. Die Entscheidung fiel für eine visuelle Hilfe, um die Fahrer nicht durch zusätzliche akustische Ablenkung zu belasten. Wir bestellen nun Neufahrzeuge in der Abfallabfuhr mit dem angebotenen Kamerasystem des jeweiligen Herstellers. Die Bestandsfahrzeuge werden mit einem 360-Grad-System nachgerüstet."
Metallrecycling Augsburg: "Kein Kommentar!"
DER UNFALL Augsburg, 31. März 2017: Ein rechts abbiegender Lkw von Metallrecycling Augsburg erfasst eine Radfahrerin. Sie überlebt schwer verletzt, leidet noch heute schwer unter den Folgen, hat etliche Operationen hinter sich.
DIE REAKTION Die Fragen von AUTO BILD bleiben trotz Nachhakens unbeantwortet.
Dumberger (Augsburg): Die neuesten Assistenten im Einsatz
DER UNFALL Augsburg, 30. Juni 2015: Eine 19-jährige Radfahrerin stirbt, als ein Lkw-Fahrer rechts abbiegen will.
DIE REAKTION Das Bauunternehmen Dumberger hat nach dem Unfall alle drei Lkw mit Abbiegeassistenten ausgerüstet. Als es Technikprobleme gab, beschaffte das Unternehmen sogar modernere Totwinkelwarner (Luis Turn Detect), die auch ohne Setzen des Blinkers reagieren. Einkäufer Oguz Alver tauscht sich regelmäßig mit Unternehmen aus, die bereits Abbiegeassistenten verwenden, will so immer auf dem neuesten Stand sein. Er glaubt, dass sich trotz modernster Technik nicht jeder Unfall vermeiden lasse. Leider.
Stückenschneider (Münster): "Abbiegeassistenten sind zu teuer"
DER UNFALL Münster, 4. Februar 2015: Ein Sattelzug erfasst beim Rechtsabbiegen eine 27-Jährige. Die Frau stirbt.
DIE REAKTION Der Geschäftsführer der Firma Stückenschneider glaubt, dass an der Unfallstelle auch ein Abbiegeassistent den Unfall nicht verhindert hätte. Die Firma will diese erst einsetzen, wenn sie vorgeschrieben sind. "Wenn Wettbewerber die Technik nicht ebenfalls einsetzen, werden wir zu teuer."
BVE (Berlin): Technikprobleme nach Umrüstung
DER UNFALL Berlin, 17. September 2018: Ein 46 Jahre alter US-Amerikaner wird an der Ecke Moll-/Otto-Braun-Straße von einem rechts abbiegenden Lkw erfasst und stirbt.
DIE REAKTION Sofort nach dem Unfall beginnt die Firma BVE, alle 30 Lkw mit Abbiegeassistenten auszustatten. Doch das ist gar nicht so einfach. Firmenchef Hermann Müller: "Nicht alle Geräte waren von Beginn an fehlerfrei und mussten mehrfach zur Kalibrierung zurück in die Werkstatt." Der Fahrer sei nach dem tragischen Ereignis zwei Wochen freigestellt gewesen und umfangreich psychologisch betreut worden. Müller bemängelt, dass viele Radfahrer sich an Ampeln "an wartenden Kolonnen vorbeimogeln". Er befürchtet, dass dann auch Abbiegeassistenten versagen.
Preimesser (München): Assistenten auf jedem neuen Lkw
DER UNFALL München, 7. Mai 2018: Eine Grundschülerin ist morgens auf dem Weg zum Unterricht, überquert in München-Milbertshofen bei Grün eine Kreuzung. Ein Lkw muss warten, übersieht die Neunjährige beim Rechtsabbiegen. Sie stirbt.
DIE REAKTION Lkw der Recyclingfirma Preimesser waren an zwei tödlichen Abbiegeunfällen beteiligt. Bereits davor wurde begonnen, Neufahrzeuge mit Abbiegeassistenten zu bestellen. Ältere Modelle werden "sukzessive nachgerüstet", heißt es. Hierbei komme es oft zu Technikproblemen, weil in die Fahrzeugelektronik eingegriffen werde. Jeder Lastwagen habe Zusatzspiegel, Fahrer erhielten Sicherheitstrainings und Schulungen. Trotz Ausschöpfung aller technischen Möglichkeiten könne menschliches Versagen nie ganz ausgeschlossen werden.
Kommentar
Verkehrsminister Andreas Scheuer hat recht: Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Sechs Nachrüstlösungen hat das Kraftfahrt-Bundesamt bisher zugelassen, zudem gibt es eine großzügige staatliche Förderung. Lkw-Fahrer sind zudem knapp. Wer sie für sich gewinnen will, muss ihnen was bieten. Etwa einen sicheren Arbeitsplatz im Lkw – ohne die ständige Angst, als Fahrer aus Versehen jemanden umzubringen. Denn eines ist klar: Verantwortung kostet Geld.
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