Seit 20 Jahren auf Tramperpirsch

Über dem Vielfahrerbäuchlein spannt sich ein königsblaues Hemd, darüber ein schwarzer Pullunder. "Die Vereinsfarben von Mannheim. Trag ich nur nach einem Sieg", sagt Dieter Wesch und zementiert seinen Spruch mit einem schnarrenden Lachen. In stillen Momenten ist dem 49-Jährigen eher zum Heulen zumute. Denn die Erfolge der geliebten Waldhof-Buben können nicht über die Niederlage seines Lebens hinwegtrösten: Dieter Wesch fühlt sich von Gott und der Welt verlassen - er findet keine Tramper mehr.

Der Engel der Anhalter, der gute Geist am Straßenrand, der Weltrekordler im Menschenmitnehmen: Alleinfahrer. Und das schon seit dem 10. Juni 2000. Damals stieg ein gewisser Dirk S. als Fahrgast Nummer 9528 in Weschs roten Proton und ließ sich ein paar Kilometer chauffieren. Danach kam niemand mehr. "Die große Zeit ist eben vorbei", sinniert Wesch, und in seiner Stimme schwingt Woodstock'sche Wehmut. Früher, in den Siebzigern, war Trampen eine Lebenseinstellung. In den Achtzigern reisten junge Leute mit schmalem Geldbeutel per Autostopp. In den Neunzigern hielten vor allem arme Osteuropäer den Daumen raus. Und heute nicht einmal die.

"Noch vor 15, 20 Jahren war es üblich, dass ein Orchestermusiker nach dem Konzert per Anhalter heimfuhr", schwelgt Süßigkeitenfan Dieter in Erinnerungen. "Heute hat er einen Kombi oder wenigstens die Bahncard." Die letzten Späthippies kommen mit TUI nach Gomera, die Antiatomkraftler im geleasten Golf nach Gorleben.

9528 hat er, 11.751 will er

Im Traumsommer 1980 pickte Dieter monatlich 150 bis 200 Leute von der Straße. 2001 werden es mit Glück zwei, drei Dutzend sein - im ganzen Jahr. Und dafür muss der Mannheimer einiges tun. An Wochenenden oder nach Dienstschluss steuert er Autobahnauffahrten und Rasthöfe an, geht gezielt auf Tramper-Pirsch. Zuletzt ohne zählbaren Erfolg.

300 bis 400 Mark Spritkosten kommen so im Monat zusammen. Ein echtes Opfer für jemanden mit 2600 Mark netto. Wesch ist zwar gelernter Industriemeister Chemie, doch eine gut bezahlte Meisterstelle kann ihm sein Arbeitgeber, die Uni Stuttgart, bislang nicht bieten. Um sein Hobby finanzieren zu können, jobbte er neben der Arbeit im Chemikaliendepot des Instituts nach Feierabend in einer Putzkolonne.

Dieter Wesch sitzt auf einer Couch im Wohnzimmer. Jetzt im März 2001 müssen die Anträge für das neue Guinnessbuch raus. Drei Zeugen sollen unterschreiben, aber trotz 9528 potenzieller Kandidaten fällt es dem Junggesellen schwer, spontan jemanden zu benennen. Echte Freundschaften sind aus seinem Tramper-Tick nicht hervorgegangen. Zu kurz, zu flüchtig waren die Begegnungen auf der Straße. Auch wenn Wesch für besonders nette Mitfahrer gerne private Stadtführungen veranstaltet oder große Umwege in Kauf nimmt.

Noch ist Winterpause. Am 4. 4. beginnt die Saison, am 11. 11. endet sie. Jahr für Jahr. Dazwischen liegen sieben Monate und sieben Tage. Zahlen haben für Wesch eine magische Bedeutung. So will er mit dem Menschensammeln bei Fahrgast 11.751 - sein Geburtstag ist der 11. 7. 51 - aufhören. Ein unerreichbares Ziel angesichts des akuten Mitfahrermangels. Doch im Mannheimer Ortsteil Gartenstadt, wo die Straßen "Gute Hoffnung" oder "Sonnenschein" heißen, stirbt die Zuversicht zuletzt.

Kekse, Kaugummi und kühle Cola

"Im Sommer greif ich noch mal richtig an", wettert Wesch. Mit neuem Schwung und neuem Auto, einem Proton 416 in Blaumetallic. Der hat ABS, Beifahrerairbag und sogar Klima, "also noch mehr Komfort und Sicherheit für meine Gäste". Kekse, Kaugummi oder eine kühle Cola bei Hitze sind im Shuttleservice sowieso inbegriffen. Und jeder 500. Tramper wird mit einem kleinen silbernen Anstecker belohnt. Als Gegenleistung verlangt Wesch nichts als einen Eintrag ins Gästebuch.

28 Bände sind auf diese Weise seit 1976 zusammengekommen. 4000 Seiten Trampergeschichte(n), 200 Gedichte, unzählige Zeichnungen. Mit Danksagungen in Russisch, Lobpreisungen in Arabisch, Einladungen in Japanisch. Und immer wieder der Frage: Dieter, warum machst du das?

"Das ist meine Art von Lebenshilfe. Ich will die Menschen ein Stück ihres Weges begleiten", sagt der selbst ernannte Samariter. "Die Deutschen fahren ihren Wagen ja wie einen Panzer durch die Gegend. Schauen Sie mal in diese verkrampften Gesichter." Dieter Wesch aber lächelt. Er lädt die Welt zu sich ins Auto. Sie muss nur einsteigen.