Meer, Luft, Wolken. Kurz vor der Küstenstadt Zhapu verschwimmt alles zu einer schwülen, nassen Masse. Ein heftiges Gewitter taucht die Autobahn zwischen den chinesischen Städten Shanghai und Ningbo in ein matschig-dunkles Grau, die Sichtweite sinkt auf unter zehn Meter. Autos werden zu schwarzen Schatten, die Fahrer schalten Warnblinker, aber nicht das Licht an. Aus einer Cabriofahrt über das Meer scheint ein anstrengender Tauchgang zu werden, der Regen prasselt lärmend auf das Verdeck meines VW Beetle Cabrio ein. Nichts ist zu sehen von der längsten Seebrücke der Welt. Doch genauso schnell wie der Sommerregen gekommen ist, verschwindet das Unwetter; die Sonne strahlt wieder heiß und hell. Wie ein kräftiger Scheinwerfer setzt sie am Horizont ein langes, glänzendes Band in Szene: die Hangzhou Bay Bridge, die längste Seebrücke der Welt. 35.673 Meter Straße, 1,1 Milliarden Euro teuer, geplant und gebaut in zehn Jahren von mehr als 600 Experten. Eröffnet am 1. Mai 2008, dem Tag der Arbeit. Drei Monate vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking wollten die Chinesen allen beweisen: Wir sind weiter und schneller als der Rest der Welt. Mit der Brücke über die Bucht von Hangzhou holten sie ihr erstes Gold. Und sie sind darauf so stolz wie auf einen Olympiasieg.

Die Brücke verkürzt die Reisestrecke um 120 Kilometer

Hangzhou Bay Brücke
Mao Xueneng pausiert auf dem Rastplatz bei Cixi mit Mann, Tochter und Enkelin. In Zelten gibt es Pfirsiche, Trauben, Würstchen und Eis; das Rasthaus ist noch im Bau. Gleich wollen die Brückentouristen über das Meer fahren, "einfach nur so, um das hier mal zu sehen", wie sie sagen. Die Chens sind unterwegs von Ningbo nach Shanghai, zwölf Menschen in einem Kleinbus. Die Familie freut sich, dass sie jetzt statt vier nur noch zwei Stunden fährt und 120 Kilometer Umweg spart – und für etwa acht Euro Maut pro Auto viel zu sehen bekommt. "Was für ein tolles Design", sagen sie. Leicht geschwungen wie ein S liegt der Riese aus Stahl und Beton über dem Meer, wie bei einem spannenden Kinofilm kommt das Ende lange nicht in Sicht. Die Frontscheibe wird zur Leinwand. Wer als Beifahrer die Augen schließt, vergisst nach wenigen Minuten, ob er schwimmt oder rollt. Im Cabrio fühlt sich die Fahrt eher wie eine Fährpassage an: Wind, Watt, Meeresgeruch.

Schlafen auf einem Brücken-Satelliten, das gab es noch nie

Hangzhou Bay Brücke
Auf halber Strecke taucht plötzlich eine Art Ufo auf: eine kreisrunde Baustelle, gespickt mit einem einsamen Kran, der hier bis 2009 Restaurants, eine Aussichtsplattform und ein Hotel hochziehen soll. Schlafen auf einem Brücken-Satelliten, das gab es noch nie. Doch am Ufer wirft das Super-Bauwerk seine Schatten. Das Dorf Xindian verlor erst seinen Namen, dann seine Häuser und Menschen. Es riecht nach der Holzkohle und Staub in der "Hangzhou Bay Bridge Development Zone", wie die Gegend jetzt heißt. Bagger nagen an den letzten Gebäuden. Um die Entschädigungen für den Heimatverlust in die Höhe zu treiben, wollen einige Bewohner ausharren – eine in ganz China verbreitete Protestform gegen einen Fortschritt, der sich ohne Rücksicht auf Verluste brutal durch Dörfer und Städte frisst. Schon bald soll hier ein Einkaufszentrum blitzen, so modern und makellos wie die Brücke. Noch aber sind die sechs Fahrspuren fast leer. Vor dem Feuerwehrgebäude parken zwei neue Löschlaster von MAN, die Brandschützer spielen Basketball. "Das machen wir zurzeit ständig", erklärt mir der Wehrführer. Einen Einsatz habe es noch nicht gegeben. Doch das wird sich vermutlich bald ändern.

Von

Claudius Maintz