"Der Brocken ist nen Lacher", mit diesen Worten entlässt mich unser Redaktionsleiter Mathias Müller ins Wochenende und damit in mein erstes Orbit-Abenteuer, das mich nach Magdeburg/Sachsen-Anhalt führt. Ich bin etwas spät dran, Kollegin Svenja Schrade hat bereits zwei Orbits in der Tasche, die männlichen Kollegen führen je einen auf der Habenseite zu diesem Zeitpunkt. Viel wurde intern bei uns darüber diskutiert, ob die Strecken zu lang, hart oder wurzelig sind. Daher stellte ich meinen Wecker mit dem nötigen Respekt möglichst früh, um spätestens um fünf Uhr auf dem Rad zu sitzen. Ich hatte den Eindruck, dass man nie weiß, was einem beim Orbit erwartet. Ich sollte Recht behalten.
Idyllische Morgenröte: Balsam für die urbane Fahrradfahrer-Seele.
Bild: BIKE BILD

Von meinem Hotel aus war ich im Handumdrehen im Lichte der Stirnlampe an meiner Startstelle, am Elbekanal. Hach, in diese gediegene und geborgene Stimmung am Morgen verliebe ich mich jedesmal aufs Neue, die Ruhe ist ohnehin ein rares Geschenk des Himmels. Als sich um kurz nach fünf Uhr ein warmes Orange über die schimmernde Wasseroberfläche der Elbe legt, ist es um mich vollends geschehen. Dieser Orbit wird sensationell, träume ich so im Frühnebel vor mich hin. Auch hier sollte ich Recht behalten. Und gleichzeitig so bitter irren wie selten.

Der Plot: Rauf auf den Brocken – und wieder runter

Der Charakter vom Orbit Sachen-Anhalt, sofern man in Magdeburg startet und im Uhrzeigersinn fährt, was wohl ein Großteil der Starter tun wird, ist genauso simpel wie die Orientierung auf der Strecke. Die erste Hälfte führt von Magdeburg in südwestlicher Richtung durch friedliche Ortschaften, deren Namen man nie zuvor gehört hat und auch schnell wieder vergisst. Die Streckenbeschaffenheit lässt es zu, dass man eine hohes Durchschnittstempo anhäuft: Feldwege, Kopfsteinpflaster-Passagen und Asphalt wechseln sich im fairen Verhältnis zueinander ab, sodass auch Asphalt-verwöhnte Rennradfahrerinnen und Rennradfahrer ihre Freude an den ersten 30 Kilometern haben werden. Menschen begegne ich zu diesen frühen Morgenstunden nicht, nur die hiesige Tierwelt zeigt sich mir. Rehe, Hasen, ein Fuchs und Vögel kreuzen meine Wege und verwandeln die ersten Kilometer in einen Wildpark ohne Zaun und Fütterungszeiten.

Nach knapp 100 Kilometern führt die Strecke in den Harz, dabei behält man den Brocken fest im Blick. Das Mittelgebirge, bei dem sanfte und steile Waldwege Händchen halten, lässt die folgenden Kilometer wie im Flug vergehen. Verwirrung stiften bei mir der Mittel- und Galgenberg. Beide nur rund 500 Meter hoch, aber steil in der Anfahrt. Die ganze Zeit denke ich, jetzt geht's den Brocken hoch. Pustekuchen! Das dicke Ende kommt erst noch, nämlich erst ein paar Kilometer später. Das Gute: Die Stelzen sind immerhin vorgewarnt und aufgewärmt. Und ich erinnere mich wieder an Müllers Worte, die mich noch länger begleiten: Ein Lacher soll der Brocken sein? Die Pointe zündet nicht mehr. Ich drehe angestachelt die Musik auf. Die Morgenruhe habe ich ad acta gelegt, ich bin im Rennmodus. Ein Lacher soll das Ding sein? Allein im Wald lache ich laut los und trete kräftig in die Pedale.

Der höchste Gipfel Norddeutschlands

Der Brocken breitet sich nach rund 110 Kilometern vor mir aus. Die Ruhe ist weg. Es müsste etwa 10 Uhr morgens jetzt sein. Orbit-Fahrer treffen jetzt auf Gesellschaft. Auto-Kolonnen preschen an diesem Samstagmorgen auf der Asphalt-Straße Richtung Gipfel. Der Platz "Harz Camping" lädt zum Verweilen und Übernachten ein, und in Schierke kann man sich nochmal versorgen, bevor der Aufstieg so richtig beginnt.
Ich habe bewusst nichts über den Brocken gelesen. Anstiege muss man ohnehin nehmen, wie sie kommen, denke ich. Das Einzige, was ich wusste, dass das Ding ein Lacher sein soll. Ich fahre weiter mit Musik. Ironischerweise spielt mir der Shuffle-Modus Smile von Nat Cole. Jetzt wird die Sache langsam albern, auch wenn die Topografie alles andere als zum Lachen ist. Zehn Kilometer mit rund fünf Prozent Steigung bringen meine Cross-Übersetzung von 36 vorn und 32 hinten an die Grenze des flüssigen Tretens. Ich bin nicht allein. Wanderer und andere Rennradfahrer arbeiten sich mit mir den mit 1.141 Metern (offiziell) höchsten Gipfel Norddeutschlands hoch, der um einiges karger ist, als die Harz-Ausläufer zunächst einladend suggerieren. Die Sonne schickt ihre Strahlen gnadenlos in Richtung Erde und kocht mich genüsslich. Ein brütender, karger und anstrengender Anstieg ist der Weg auf den Brocken, der seinem Namen echte Ehre macht.
Oben angekommen steigt die Erleichterung auf, dass die Hälfte geschafft ist. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass fünfeinhalb Stunden vergangen sind. Jetzt müsste es tendenziell bergab in Richtung Magdeburg gehen. Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Cola-Flasche, knete kurz die Beine und freue mich auf eine kühlende Abfahrt.
Den Brocken im Blick. Die Ausläufer führen spielerisch auf den höchsten Gipfel Norddeutschlands.
Bild: BIKE BILD

Glühende Bremsscheiben, beanspruchte Rückenwirbel

Ja, und exakt ab hier beginnt das Drama. Lochplatten. Nein, bitte nicht. Ich will doch jetzt Geschwindigkeit machen. Stattdessen kommen die Scheibenbremsen an ihre Grenzen. Und meine Handknochen. Und die Rückenwirbel. Es knallt und poltert und schüttelt mich. Immer wieder muss ich rapide Abbremsen, um die Sturzgefahr zu minimieren. Spaß macht mir das überhaupt keinen, um ehrlich zu sein. Die 140er-Scheibenbremsen sind dermaßen heiß gelaufen, dass man ein Spiegelei darauf braten könnte (müsste vom Durchmesser auch gut passen, oder?). Aber ich habe noch mentale Kapazitäten, die erste Hälfte habe ich die Akkus mehr aufgetankt als geleert, so begeistert war ich von der Strecke. Dem Kollegen Müller, der auf seiner Grenzsteintrophy tagelang die Platten verfluchte, würde ich jetzt liebend gern zurufen: Ein Lacher, diese Platten. Kurz überlege ich, ihn deswegen anzurufen. Ich muss grinsen. Und nehme die Strecke weiter, wie sie kommt.
Nach den Lochplatten folgt ein Wanderweg mit Wurzeltrails. Mir spielt mein Cyclocrosser von Stevens jetzt in die Karten, mit dem ich über den Naturparcours düse. Angekommen an der Eckertalsperre bei Bad Harzburg entlohnt der ruppige und langsame Abstieg mit einem herrschaftlichen Panorama aufs Stauwasser. Was nach der Überquerung der Gewichtsstaumauer folgt, ist mein Highlight der Strecke. Eine wilde und rasante Abfahrt bei Ahlsburg durch den kühlen Wald auf 1-A-Schotterwege mit knirschendem Suchtpotenzial. Soundtrack für die Abfahrt gefällig? Bei der Kuranstalt Jungborn angekommen geht's über einen schmalen, am Ecker liegenden Weg, passenderweise Grenzweg genannt, nochmal im Zick-Zack über Wurzeln flott aus dem Harz heraus. 150 Kilometer sind jetzt erledigt, 130 liegen noch vor mir.
Abenteuerlich geht es den Brocken wieder bergab – hier auf Lochplatten auf den Spuren der innerdeutschen Grenze.
Bild: BIKE BILD

130 Kilometer, die nicht nur an meinen Kräften zerren werden, sondern meine Motivation und Lust Fahrrad zu fahren total auffressen. Ich muss es so deutlich sagen. 130 Kilometer fahre ich mit Gegenwind (der für einen Hamburger ein Lacher ist) gefühlt und wahrscheinlich tatsächlich nur noch über Feldwege, allenfalls unterbrochen durch kurze Asphalt-Liaisons. Immer wieder, immer wieder, immer wieder. Ich bin schon durch die Negev-Wüste geradelt und 4,5 Stunden auf dem Rollentrainer zu Hause vor einer weißen Wand gefahren. Mürbe macht mich so schnell nichts. Doch das ist alles ein Witz gegen das, was die letzten 130 Kilometer – mit Ausnahme der letzten zehn – zu absolvieren ist. Vielleicht bin ich auch einfach hart enttäuscht und frustriert? Die erste Hälfte, auch die rasante Abfahrt, haben mich auf Wolke 7 fahren lassen, jetzt lässt mich der Track mental in ein tiefes, schwarzes Loch fallen und kippt kaltes Wasser von oben nach. Die pure Folter. Ja, Enttäuschung könnte der Grund sein.
Hilft nichts, muntere ich mich auf, vor einem dämlichen Feldweg werde ich heute nicht kapitulieren. Ich arbeite mich durch, lasse lustlos die Beine fallen. Links, rechts, links, rechts – wie ein Fließbandarbeiter. Es gibt daher wenig zu berichten, vielleicht noch die Begegnung mit einer Scharr Schafe und einer Hirtin, die diese vom Feld scheuchen wollte, weil sie meinen ironischen Ausspruch, "Ich muss da lang, der Orbit-Track will es so", zu ernst genommen hat. Natürlich steige ich ab, danke ihr, und schiebe mein Rad so langsam es geht an den zutraulichen Tieren vorbei. Lieber würde ich hier bleiben, mich zu ihr setzen, übers Wetter plaudern und den Schafen beim Grasen zuschauen. Wenig später halte ich in Oschersleben, einen Ort, den ich aus dem Staufunk kenne, und fülle meine Flaschen bei einem Frisör auf, der mich mit Lutschbonbons aus dem Grabbelglas versorgt.

Hoffnungsschimmer auf dem Mittellandkanal

Mehr bleibt nicht hängen, bis ich am Mittellandkanal das nächste Mal wieder Wasser – im übertragenen Sinne auch Land – sehe. Die sich im Kanal spiegelnde Nachmittagssonne wird zu meinem persönlichen Hoffnungsschimmer an diesem Tag. Die Elbe und damit Magdeburg dürfte auch nicht mehr weit sein. Noch einmal hole ich mir Motivation aus der Playlist.
Hindernisse der tierischen Art. Eine willkommene Abwechslung im Feldweg-Staccato.
Bild: BIKE BILD

Ärger machen noch zwei Sperrungen. Die Überquerung der Kanalbrücke Magdeburg ist gesperrt. Nach kurzem Durchfragen eröffnet sich eine Alternative an einer nahegelegenen Schnellstraße, deren Radwege wegen Bauarbeiten allerdings für Radler auch gesperrt ist. Hier könnte aber man sein Rad theoretisch durchschieben. Ich sehe auf der Karte keine weitere Alternative.
Kurze Zeit später bin ich auf dem Elberadweg, der astrein zu befahren ist. In Bars am Handelshafen wird indes – wir haben es kurz nach 18 Uhr – Bier ausgeschenkt. Der Durst nach einem Finisher-Bier ist mir vergangen. Ich ziehen die letzten Kilometer durch, drücke am Radcomputer Stopp und radle gleich weiter zum Hotel, um schnell zu duschen und dann frustriert die Glotze anzuschmeißen, wo ich später einer Reportage vom Salzburger Land folge. Auf dem Weg dorthin liegt das Café Mademoiselle Cupcake, deren selbstgemachte Törtchen mich erst wieder auf die süße Seite des Lebens führen.

Fazit Orbit Sachsen-Anhalt

Die Strecke ist meiner Meinung nach Licht und Schatten, Himmel und Hölle, Paradies und Folter. Die erste Hälfte ist so mit das schönste, was ich auf dem Rad bisher erlebt habe. Der Aufstieg auf den Brocken sollte in der Palmerès eines Hamburgers sowieso Einzug erhalten. Fahren auf Lochplatten kann man mal gemacht haben, um den Enkeln davon zu erzählen. Muss man aber nicht. Und die Abfahrt nach der Eckertalsperre zaubert Schmetterlinge in den Bauch. Der Rest ist Kopfsache und ausschließlich harte und monotone Arbeit auf dem Fahrrad. Wer auf Happy Ends steht, sollte den Orbit Sachsen-Anhalt auf dem Brocken starten oder dort nach der Hälfte beenden.

Nützlich zu wissen

Material: Auf der ersten von mir beschriebenen Hälfte ist ein sportliches Gravelbike oder Crossrad mit 35 bis 40 Millimeter breiten Reifen die richtige Wahl. Das Tempo ist hoch und die Wege gut zu befahren. Auf den Feldwegen entschärfen Federgabel oder noch breitere Reifen die Erschütterungen des Skeletts.
Versorgung: Ich habe mir keine Versorgungsstellen herausgesucht, sondern mich überraschen lassen. Da man immer wieder kleine Ortschaften durchfährt, läuft man nicht Gefahr, sich leer zu fahren. Ich empfehle das Auftanken vor dem Anstieg auf den Brocken, danach gibt es für viele Kilometer keine Verpflegungsstellen.
Anreise/Übernachtung: Anreise geht bequem per Bahn oder im Auto. Das zur Zeit preiswerte Maritim-Hotel in Magdeburg liegt günstig am Startpunkt und bietet eine abschließbare Fahrradgarage.
Insider-Tipp: Statten Sie dem Café Mademoiselle Cupcake einen Besuch ab. Die süßen Versuchungen päppeln demoralisierte Orbitter schnell wieder auf und stärken für den nächsten Orbit :)

Bildergalerie

Kamera
Bilder vom Orbit Sachsen-Anhalt