Befreiter Atem macht 17 Mehr-PS locker

Der erste Blick (ent)täuscht. Etwas mehr Chrom, eine geänderte Frontschürze mit etwas mehr Pfiff, neue Räder mit mehr Glanz, mehr Profil für die Nebelscheinwerfer und Heckleuchten. Man muß schon dreimal hinsehen, um den gelifteten SL 55 AMG vom Vorgänger zu unterscheiden. Das ist gut für den Wertverlust und für das Understatement, aber schlecht für den Neidfaktor und den Neuheitenwert.

Mercedes hat sich diesmal eben mehr um die inneren Werte bemüht. Damit ist auch das überarbeitete Interieur gemeint. Im Cockpit glänzen polierte Zierteile aus Carbon, am Sportlenkrad gibt es neue Schaltwippen aus mattem Aluminium, im Kombiinstrument animiert ein Race Timer den Piloten zur Wettfahrt gegen sich selbst. Die Oberflächen wirken edel und hochwertig, doch das Nachtdesign enttäuscht: Die neue Digitaluhr, der Comand-Bildschirm und die blaustichigen Instrumente passen nicht so recht zusammen, weil sie sich unterschiedlichen Farbwelten verpflichtet fühlen.

Nein, nicht der neue 6,3-Liter-Sauger tut im SL 55 AMG Dienst, sondern der bewährte Dreiventil-Kompressormotor. Doch er atmet freier und dreht jetzt höher, wodurch die Leistung von 500 auf 517 PS und das maximale Drehmoment von 700 auf 720 Newtonmeter steigen. Davon profitiert vor allem die Spurtkraft: Statt in 4,7 Sekunden beschleunigt das 2006er Modell um zwei Zehntel schneller von null auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit ist wie gehabt auf 250 km/h begrenzt.

Optional sind jetzt sogar 300 km/h drin

Noch beeindruckender als das Power-Plus sind die sportlicheren Fahreigenschaften. Die um sieben Prozent direkter ausgelegte Lenkung reagiert vor allem um die Mittellage deutlich ausgeschlafener als bisher. Die neuentwickelte Hochleistungs-Bremsanlage verzögert dank dickerer Scheiben mit größerem Durchmesser spürbar effizienter. Die automatische Wankstabilisierung ABC ist jetzt noch agiler abgestimmt – dadurch reduziert sich die Seitenneigung der Karosserie in schnell gefahrenen Kurven um bis zu 60 Prozent.

Wer es gern kernig mag, kann den SL 55 AMG mit dem Performance Package bestellen. Es beinhaltet eine straffere Feder- und Dämpferkennung, größere Bremsen vorn, mehrteilige 19-Zoll-Räder, ein Sperrdifferential mit einer Sperrwirkung von 30 Prozent, einen zusätzlichen Motorölkühler und eine geänderte Frontschürze mit noch besserem Luftdurchlaß. Derart aufgerüstet, darf der SL mit dem Segen des Werks sogar 300 km/h Spitze laufen.

Der fast doppelt so teure SL 65 AMG macht daher ab sofort noch weniger Sinn als bisher, denn er nimmt dem SL 55 in der Paradedisziplin nur mehr 0,2 Sekunden ab und kann auch in Sachen Höchstgeschwindigkeit nicht zulegen. Außerdem lastet der Achtzylinder weniger schwer auf der Vorderachse als der V12. Davon profitieren die Handlichkeit, das Einlenkverhalten und die Rückmeldung im Grenzbereich. Schließlich hängt der Kompressormotor einen Wimpernschlag gieriger am Gas. Das liegt am neuen Steuergerät, an der größeren Drosselklappe und am entrümpelten Ansaugsystem, das viel befreiter durchatmet.

Das Getriebe hat im Gegensatz zum SL 500 nur fünf Gänge, doch das ist im Alltag kein Manko, denn die Drehmomentkurve verläuft von 2600 bis 4000/min so flach wie ein Tafelberg. Besonders intensiv ist das Fahrerlebnis im M-Modus, in dem das Räderwerk selbst beim Erreichen der Nenndrehzahl nicht automatisch hochschaltet. Ein kleinerer Wandler mit geringerem Trägheitsmoment sorgt außerdem für ein spontaneres Ansprechverhalten.

Technische Daten und Preis

Der SL 55 AMG wirkt bei der ersten Begegnung wie ein Lebemann im teuren Jogginganzug, doch hinter der Fassade stecken die Gene eines reinrassigen Sportwagens. Vor allem der Motor ist ein Traum. Weil der Kompressor dem V8 mächtig Druck macht, schlenzt das 5,5-Liter-Aggregat schon bei knapp über Leerlaufdrehzahl mehr Newtonmeter an die Hinterachse als die 285er Pirelli verkraften können.

Damit uns die Elektronik nicht den Spaß verdirbt, wird ESP abgeschaltet und der siebte Sinn eingeschaltet. Ohne Netz und doppelten Boden neigt der SL nämlich bereits bei moderaten Lenkwinkeln zu spontanem Ausbrechen, die durch promptes Gegenlenken entschärft werden wollen. Vor allem auf Mallorca, wo die Straßen besonders rutschig sind, zeigen schon kleine Gaspedalbewegungen große Wirkung.

Doch selbst auf diesem kritischen Geläuf ist der AMG-Roadster ein verläßlicher Partner. Die Lenkung wirkt jetzt transparenter und mitteilsamer. Auch die Bremse überzeugt – nicht nur mit tollen Verzögerungswerten, sondern auch durch die sensible Kraftverteilung zwischen den Achsen und die verbesserte Dosierbarkeit. Als ruhender Pol um die Hoch- und Längsachse rundet das optimierte ABC den positiven Gesamteindruck ab. Fazit: Wer 133.980 Euro auf der hohen Kante hat, bekommt mit dem SL 55 AMG ein Ganz-Jahres-Spaßmobil, das es wie kein zweites Roadster-Coupé versteht, selbst fahrerischen Durchschnittstalenten den Reiz des Heckantriebs in seiner gesamten Driftbreite nahezubringen.

Technische Daten: V8, vorn längs eingebaut • Kompressoraufladung • drei Ventile pro Zylinder • Hubraum 5439 cm³ • Leistung 380 kW (517 PS) bei 6100/min • max. Drehmoment 720 Nm bei 2600–4000/min • Hinterradantrieb • automatisches Fünfganggetriebe • aktive Fahrwerkregelung • Verbundscheibenbremsen rundum, belüftet und gelocht • Reifen 255/40 R18 vorn, 285/35 R18 hinten • Länge/Breite/Höhe 4535/1827/1295 mm • Radstand 2560 mm • Leergewicht 1960 kg • Kofferraum 235/339 l • Tank 80 l • Beschleunigung 0–100 km/h in 4,5 s • Höchstgeschwindigkeit 250 km/h • Preis: 133.980 Euro

Von

Georg Kacher