Zuerst kommt die objektive Messung. Dazu soll ich mein Kinn auf eine schalenförmige Ablage legen und in eine Linse gucken, wo sich ein nicht identifizierbares Motiv in seinen Umrissen abzeichnet. Die Maschine um die Linse beginnt zu summen und schärft das Motiv nach. Langsam wird es sichtbarer, bis ein Heißluftballon knacke scharf vor meinen Augen erscheint. „In diesem Refraktometer wird automatisch die Sehschärfe ermittelt. 
Ein Muster wird per Infrarotlicht auf die Netzhaut projiziert und durch Scharfstellen vorgeschalteter Linsen die vorliegende Fehlsichtigkeit ermittelt", erklärt mir der Inhaber von Paradies Optik in Hamburg, Günther Harries, die erste Station seiner Augenuntersuchung. Seit 40 Jahren ist der passionierte Mountainbiker als Optiker tätig, schon seit über 20 Jahren macht er Sportbrillen mit Sehstärke. Viele Sportler kommen zu dem staatlich geprüften Augenoptikermeister, um sich beraten zu lassen: Fußballer, Leichtathleten, Handballer – und auch Radfahrer.
Fahrradbrillen mit Sehstärke
Günther Harries ist 1958 in Hamburg geboren. Nach bestandener Gesellenprüfung hat er sich 1992 in Hamburg als Optiker selbstständig gemacht und fertigt seit 1996 Sportbrillen mit Sehstärke. Der passionierte Mountainbiker ist seit über 30 Jahren staatlich geprüfter Augenoptikermeister und seit 2021 führt er den Bachelor of Optometrie.
Bild: Jozef Kubica

Unterschied von Sehstärke und Sehleistung

„Wir sind hier durch“, sagt Harries, „du kannst dich lösen und entspannen.“ Das Gerät spuckt im Anschluss minus 1,25 Dioptrien aus, nur eine geringe Fehlsichtigkeit. Negative Dioptrien stehen für Kurzsichtigkeit und positive Dioptriewerte für Weitsichtigkeit. Je höher die Zahl, desto schlechter sieht die Person ohne Brille und desto stärker muss die Korrektur der Sehhilfe werden.
Nach der objektiven refraktometrischen Untersuchung folgt der subjektive Test im Nebenraum des Geschäfts. Jetzt bestimmt Harries, wie das Sehergebnis in der Praxis ausfällt. Dazu muss ich auf einer Tafel am anderen Ende des Raums Buchstaben und Zahlen verschiedener Größen entziffern. Mithilfe einer Messbrille und verschiedener Stärkegläser wird die Verträglichkeit der potenziellen Sehunterstützung getestet – für jedes Auge einzeln. Harries erklärt: „Die Sehleistung wird in Prozent angegeben und hängt mit der genetischen Disposition zusammen.“ Und der Augenfachmann weiter: „Der sogenannte Visus, also das Vermögen des Auges, Strukturen und Oberflächen wahrzunehmen, gibt Aufschluss über das individuelle Auflösungsvermögen des Auges.“ Der Wert sei umso größer, je kleinere Details an einem Objekt erkannt werden. Ein Visus von 1,0 (entspricht einer Sehleistung von 100 Prozent) bedeutet, dass das Auge auf fünf Meter Entfernung an einem Objekt Details von 1,5 Millimeter Größe erkennen kann.
Soweit die Theorie. Mein Ergebnis ist ernüchternd. „Mit dir würde ich nicht auf den Trail gehen, wenn du keine Brille trägst“, bewertet Harries meine Sehleistung ohne Sehhilfe. Er erklärt mir das Problem: „Du hast links ohne Support nur noch eine Leistung von 10 Prozent, rechts kommst du aber noch auf 70 Prozent.“ Ich frage nach: „Aber ich habe doch nur minus 1,25 Dioptrien?“ Und tappe voll in die Falle, denn genau da liegt laut Harries das Missverständnis: „Die Sehstärke beschreibt nur die Fehlsichtigkeit. Eine entsprechende Brille gleicht diese Fehlsichtigkeit aus. Erst dann steht die maximale Sehleistung zur Verfügung.“ Heißt in meinem Fall: Obwohl meine Sehstärke nur geringfügig beeinträchtigt ist, ist die Sehleistung bei fehlender Brille extrem gering.
Fahrradbrillen mit Sehstärke
Durch das refraktometrische Verfahren wird die Sehstärke objektiv ermittelt.
Bild: Jozef Kubica

Wer daher eine Führerscheinprüfung für ein Kfz beantragt, muss aus Sicherheitsgründen ein augenärztliches Gutachten vorlegen. Bei einem Wert unter 70 Prozent Sehleistung muss der Kfz-Führer eine Brille während der Fahrt tragen, was sogar im Führerschein vermerkt wird. Auf dem Fahrrad sucht man vergleichbare rechtliche Vorgaben vergebens. Voraussetzung ist nur, dass man sein Fahrrad im Rahmen des § 1 Straßenverkehrsordnung beherrscht: „Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder, mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Gefährlich und leistungslimitierend

„Wie viel Auge braucht der Sport?“, hat der Ophthalmologe Dieter Schnell bereits 1999 im Deutschen Ärzteblatt gefragt und gefordert, bei Spitzensportlern die Sehfähigkeit in den Fokus zu rücken. In seinem viel beachteten Aufsatz schreibt der renommierte Forscher: „Optimale Leistungen im Sport setzen eine optimale Sehfähigkeit im Sport voraus, in der Lernphase ebenso wie in der Pause der Automatisierung der Bewegung.“ Schnell berichtet von eigenen Untersuchungen, die zeigten, dass eine Behebung der Fehlsichtigkeit zu besseren sportlichen Leistungen führte. Grundsätzlich profitieren sportive Radfahrer von einer gut ausgebildeten Punktsehstärfe (Übergang von Sehen und Nichtsehen).
Fahrradbrillen mit Sehstärke
Computergestützt wird die Linsengröße ermittelt und danach beim Produzenten in Auftrag gegeben.
Bild: Jozef Kubica

Bei wechselnden Lichtverhältnissen auf einem Trail im Wald kommt die Punktsehschärfe zum Tragen. Wenngleich Spitzenleistungen im Alltag keine Rolle spielen, ist optimales Sehen dort genauso wichtig, um Gefahren früh zu erkennen. Im Alltagsverkehr, etwa auf dem Weg ins Büro, hat man es mit dynamischen Verkehrssituationen und vielen Verkehrsteilnehmern zu tun. Das sogenannte Bewegungssehen ist gefordert: Radfahrer müssen nicht nur ihre eigene Position antizipieren, sondern auch Position, Bewegung und Geschwindigkeit anderer Verkehrsteilnehmer erkennen und einschätzen. Das lässt sich laut Schnell sogar trainieren, wenn die Fehlsichtigkeit korrigiert ist. Allen voran Ballsportarten würden das dynamische Sehen verbessern.

Große Auswahl: Die verschiedene Brillensysteme

Unabhängig von Sehschärfe und Blendschutz erfüllen Sportbrillen einige weitere Zwecke, sie schützen vor Staub, Insekten, Fahrtwind und UVStrahlen der Sonne. Ein zusätzliches Plus ist das bruchfeste Material. Günther Harries mahnt: „Mit der Alltagsbrille im Sport unterwegs zu sein, ist eine gefährliche Sache. Ich habe selbst erlebt, wie ein abgebrochener Metallbügel nach einem Sturz das Auge eines Radfahrers verletzt hatte.“
Nahezu alle namhaften Hersteller von Sportbrillen bieten Modelle mit Sehstärke an. Auf welche Marke Sie stoßen, wird wohl vom Optiker Ihres Vertrauens abhängen, bei dem Sie Ihren Sehtest durchführen lassen. Hierfür fallen geringe Kosten von 15 bis 35 Euro an. Bestellen Sie indes nicht blind und auf Verdacht im Netz – Gläser und Augen müssen optimal aufeinander abgestimmt sein.
Fahrradbrillen mit Sehstärke
Sportbrillen sind leicht gebogen. Die Krümmung muss der Optiker bei der Linsenbestellung berücksichtigen.
Bild: Jozef Kubica

Spannend ist die Systemfrage: „Bis zu einer Sehstärke von plus beziehungsweise minus fünf Dioptrien haben die Kunden die freie Wahl zwischen Direktverglasung, Adapterverglasung oder Clip-inSystem“, erklärt Harries. Sogar Gleitsichtgläser und spezielle Gläser bei Hornhautverkrümmungen seien für Optiker längst kein Problem mehr.
Jedes System hat Vor- und Nachteile. Die Direktverglasung ist die optisch schönste Lösung und lässt sich von einer Sportbrille ohne Sehstärke nicht unterscheiden. Das Sichtfeld ist zwar groß, allerdings müssen Sie sich bei der Direktverglasung auf eine Tönung festlegen. Bei der Adapterverglasung werden einzelne Gläser mit Korrektion angefertigt und gegen die Originalgläser getauscht. Die Adapterverglasung ist deutlich preiswerter und hat den Vorteil, dass man zwischen verschiedenen Gläsern wechseln kann. Für Menschen mit hohen Dioptriewerten über fünf empfiehlt sich die Clip-on-Variante. Dabei werden die Sehstärkengläser hinter die fest eingearbeiteten Schutzgläsern der Brille geklemmt. Eine Alternative sind Tageslinsen. „Ich bin überrascht, warum Kontaktlinsen im Sport so stiefmütterlich vertreten sind“, gibt Harries zu bedenken. Kontaktlinsen lassen sich schließlich mit jeder Sportbrille kombinieren. Die Monatspackung mit 30 Linsen liegt bei etwa 30 Euro.
Die Kosten für Sportbrillen mit Sehstärke sind erstmal viel höher. „Die Oakley-Direktverglasung mit Einstärkengläsern startet bei 400 Euro, mit Prizm- und Gleitsichtgläsern liegt man bei 800 Euro“, rechnet Harries vor. Ich bin perplex. „Was sind dir deine Augen wert sind?“, fragt mich Harries, „Carbonlaufräder kosten das Doppelte!“ So gesehen hat er Recht. Und folgt man Dieter Schnells Studien, ist scharfes Sehen nicht nur sicherer, sondern lässt Sportler auch schneller fahren.
Fahrradbrillen mit Sehstärke
Messen, beraten, aufsetzen, anfertigen – der Weg zur passenden Fahrradbrille mit Sehstärke erfordert Zeit, Erfahrung und Muße.
Bild: Jozef Kubica