3,6 Sekunden – oder doch nicht?

Nein, also schön ist er nicht, der Enzo. Das bekennen selbst hochrangige Ferrari-Direktoren. Doch der teuerste, stärkste und schnellste Straßen-Ferrari aller Zeiten, der auf den Vornamen des seligen Commendatore hört und im feinen Unterschied zu anderen Hochleistungs-Boliden als "Extrem- Sportwagen" tituliert wird, glänzt mit anderen Werten: zum Beispiel mit einem Kohlefaser-Chassis, das in seiner hinteren Hälfte einen Sechsliter-Zwölfzylinder beherbergt. Mit einer Leistung von 660 PS und einem maximalen Drehmoment von 657 Newtonmetern.

Mit einem Preis von 645.000 Euro, in Worten: sechshundertfünfundvierzigtausend! Und mit einer offiziell angegebenen Beschleunigung von null auf 100 km/h, die einem schon auf dem Papier den Atem verschlägt: 3,6 Sekunden. Ein Wert, der auf den ersten Blick Ehrfurcht einflößt – und auf den zweiten stutzig macht: Gemessen hat ihn außer Ferrari bislang niemand. Kein Testwagen verließ jemals das Werksgelände – und von den bislang rund 100 glücklichen Enzo-Eignern wurden auch keine Messungen vermeldet. Grund genug für Ferrari, die Fachpresse zu einem "Performance Day" auf die Teststrecke von Fiorano zu bitten, um die Performance des Enzo endlich vor objektiven Zeugen zu beweisen.

Andrea Bertolini, hauptberuflicher Testfahrer bei Ferrari, übernimmt den Job des Beschleunigers, um den ihn in diesem Fall keiner der anwesenden Journalisten beneidet: Wer möchte schon vor Publikum einen Enzo abwürgen oder gar die Kupplung verbrennen?

Ups – 6,4 Sekunden auf 160 km/h

Und so ganz entspannt geht auch Bertolini die Sache nicht an, er entert das Cockpit sichtlich konzentriert – diese Gesichtszüge kennt man von Formel-1-Fahrern vor dem Start. Erst mal zwei Runden zum Warmfahren, anschließend zwei schnellere Runden, kurzer Check an der Box – und dann wird es ernst.

Eingangs der gerade mal 400 Meter langen Geraden stoppt Bertolini. Schaltet das ASR ab, den Race-Modus für optimale Schaltvorgänge ein – und gibt Gas. Die zwölf Zylinder bellen auf, blauer Rauch kräuselt aus den hinteren Radhäusern – und weg ist er. Weder optisch noch akustisch sonderlich imposant, doch das Ergebnis überzeugt: 3,53 Sekunden nadelt der Drucker aufs Papier, Operation gelungen, Enzo wohlauf, Bertolini entspannt.

Doch die Kollegen sind noch nicht zufrieden. Den Wert von null auf 160 hätten sie gern noch. Also noch mal: ASR aus, Race ein, Gas, Rauch – und weg. Dann ist auch der 160er-Wert im Kasten: 6,4 Sekunden – so lange braucht ein Boxster auf Tempo 100. Doch da ist noch was.

Technische Daten

Wie gebannt starrt Versuchsleiter Gimignano Alberguzzi auf den Papierstreifen, schüttelt den bebrillten Kopf, kratzt sich nachdenklich an der Wange, kreist mit seinem Bleistift einen anderen Wert ein und reicht den Ausdruck weiter an Giuseppe Pedrotta, den Chefentwickler des Enzo.

Auch Pedrotta runzelt zunächst die Stirn, doch dann weicht die bedenkliche Miene einem breiten Grinsen: "Tre ventisette", verkündet er strahlend, zu Deutsch: drei siebenundzwanzig. Im zweiten Anlauf hat Bertolini die Werksangabe für den Spurt auf Tempo 100 um gute drei Zehntel unterboten. Man wird die Prospekte neu drucken müssen.

Technische Daten V12-Mittelmotor • vier Ventile pro Zylinder • Hubraum 5998 cm³ • Leistung 485 kW (660 PS) bei 7800/min • max. Drehmoment 657 Nm bei 5500/min • Hinterradantr. • Sechsganggetriebe • Einzelradaufhängung an doppelten Querlenkern mit Schubstreben, Schraubenfedern, Stabilisatoren • innenbelüftete Keramik-Kohlefaser-Bremsen • Reifen 245/35 ZR 19 vorn, 345/35 ZR 19 hinten • Leergewicht 1255 kg • 0 – 200 km/h in 9,5 s • Vmax über 350 km/h Preis 645.000 Euro