Abschussrampen für Mini-Raketen

Jede Generation von Quartettspielern hat ihre automobilen Helden. Ein Lamborghini ist seit 30 Jahren immer dabei. Ende der 70er war es der Miura, der durch seine Schnelligkeit und Stärke dominierte. Es folgten Countach und Diablo. Mit dem Murciélago, dem nach Ex-Audi-Chef Franz-Josef Paefgen "besten Lambo aller Zeiten", schicken die Italiener wieder einen "Unbesiegbaren" ins Rennen: zwölf Zylinder, 580 PS, 650 Newtonmeter, 215.180 Euro. Der Stoff, aus dem man Helden macht.

Ortstermin Sant’Agata. Hinter den bläulich schimmernden Fensterscheiben des Lamborghini-Museums stehen sie: Miura, Countach, Diablo. Vor dem modern gestylten Werk parkt ein grünes Etwas, das wegen seiner vier Reifen leicht als Auto zu erkennen ist. Doch was ist das? Türschweller, die fast an Tragflächen erinnern; klaffende, nur durch Gitter abgedeckte Öffnungen vorn, am Ende der Seitenschweller und am Heck, groß genug, um junge Hunde zu verschlingen; schräg in Richtung Himmel ragende Auspuffrohre, die wie Abschussrampen für Mini-Raketen wirken. Und dann die Heckpartie, die optisch schon kurz hinter der Windschutzscheibe zu beginnen scheint. Der Exot unter den Exoten gibt sich keine Mühe, seine brachiale Kraft zu kaschieren.

Doch genau das ist es, was Lamborghini-Fans seit dem Countach an der italienischen Sportwagenschmiede schätzen: extremes Aussehen, gepaart mit schier unbegrenzter Leistung. Wieder Franz-Josef Paefgen: "Es wird immer Leute geben, denen jeder Ferrari einfach zu soft ist." Ah ja.

Das grüne Monster von Sant’Agata

Moreno Conti hat seit 20 Jahren einen buchstäblich heißen Job: Er testet Lamborghini. Zu Entwicklungszwecken und zum letzten Check, bevor ein Lambo an den Kunden ausgeliefert wird. Entsprechend gelassen steuert er das grüne Monster durch Sant’Agata. Für ihn ein normaler Arbeitstag. Für mich der erste richtige Kontakt mit dem aktuellen Überflieger aus dem Haus der Stiere. Und der ist alles, aber nicht normal. Obwohl er in seiner Kargheit klar als Sportgerät erkennbar ist, geht es im Murciélago sehr luxuriös zu. Fein verarbeitetes Leder, dessen Geruch an einen Bentley erinnert, nicht zu enge und recht bequeme Sportschalensitze, eine aus dem vollen Metall herausgearbeitete massive Abdeckklappe für die Klimaanlage – das Ganze weniger spartanisch als erwartet. Sogar zwei Kleiderhaken hinter den Sitzen gibt es, ein Brillenfach im Dachhimmel und für den Beifahrer einen Angstgriff.

Nach einigen Kilometern ist der Lambo warm. Conti steuert in Richtung Ortsausgang. Bislang lief der Murciélago in Drehzahlregionen, die er wohl nur als eine Art Ruhepuls empfindet. Kaum am Ortsschild vorbei, gibt Signore Conti Gas. Wie von der Tarantel gestochen, fegt der Lamborghini über die Landstraße. Conti lacht. Ich schlucke. Fahrerwechsel. Mit etwas Geschick ist es kein Problem, sich über den breiten Schweller in den Sitz zu wuchten. Mit der linken Hand greift man nach oben, um die schwere Flügeltür zu schließen. Ein Check der Sitzposition, Nachstellen des filigranen Lederlenkrads, und der Spaß kann beginnen. Ich drehe den Zündschlüssel, warte vielleicht ein halbe Sekunde, und der 6,2-Liter große V12 springt mir von hinten ins Kreuz.

Überraschend: Wer einen ungezähmten Kampfstier erwartet, wird angenehm enttäuscht. Die Pedalkräfte halten sich in Grenzen, die servounterstützte Lenkung zickt auch bei niedrigen Tempi nicht, und die wunderbare Schaltkulisse ist völlig hakelfrei. In der Stadt genügen zwei Gänge: erster oder auch zweiter zum Anfahren, vierter oder fünfter für alles Weitere. Es ginge auch der sechste, in dem man bei rund 1000 Touren etwa 60 km/h fährt. Aber dann sollte man auf den rechten Fuß achten. 60 km/h spürt man im Lambo kaum, und wenn man das Gaspedal nur leicht antippt, ist man schnell zu schnell.

Ab 4000/min heißt es: Feuer frei!

Recht flink reagierte auch Audi, als die Firma Lamborghini nach wechselvoller Geschichte 1998 in den Besitz der Ingolstädter überging. Denn da arbeiteten die Italiener bereits fieberhaft am Nachfolger des Diablo. Das unter dem Kürzel L147 oder dem Arbeitstitel "Canto" bekannte Geschoss kam jedoch über den Prototypen-Status nicht hinaus. Zu extrem erschien er den neuen deutschen Lambo-Eigentümern mit seinen gewaltigen, an Kampfhubschrauber erinnernden Lufteinlässen über den hinteren Radhäusern. Dabei waren sie nur Ausdruck der Bemühungen, die fast schon traditionellen Überhitzungsprobleme der wilden Stiere in den Griff zu bekommen.

Doch das ist Schnee von gestern. Denn Lambos aktueller Bolide bewegt sich nicht nur namenstechnisch in luftigen Gefilden ("Murciélago" heißt auf spanisch "Fledermaus" und war der Name eines berühmten Kampfstiers). Der Italo-Toro wurde inzwischen so erzogen, dass er sich seinen Bedarf an Atemluft selbst zuführt. Denn je nach Kühlbedarf öffnet und schließt sein "Variable Airflow Cooling System" (VACS) die dreieckigen, flügelähnlichen Luftkästen oberhalb der hinteren Radhäuser. Vollautomatisch.

Moreno Conti lotst mich in Richtung Modena, wo es kurvenreiche Bergstrecken gibt und man mit etwas Glück auch einen mehr oder weniger getarnten Ferrari antrifft. Hier kann der Murciélago endlich sein wahres Wesen zeigen. Ab ungefähr 4000/min geht ein kräftiges Schütteln durch den Lambo, der Motor gibt jede akustische Zurückhaltung auf und feuert aus beiden Rohren, was das Zeug hält. Schon die ersten etwas schneller gefahrenen Kurven beweisen die absolute Präzision des Hochleistungs-Sportwagens: Messerscharf folgt er dem Lenkeinschlag und meldet jede Bodenunebenheit verbindlich weiter. Das Erstaunliche: Je länger man den Lambo steuert, desto kleiner wirkt er. Die von außen recht monströs erscheinende Karosserie verliert all ihre Schrecken, denn die Sicht nach vorn ist sehr gut. Und hinten könnte jetzt eigentlich nur noch ein Ferrari auftauchen. Damit das nicht passiert, gebe ich Gas. Zu viel Gas, denn Conti fragt: "Hast du Familie?" Okay. Dann eben doch wieder Autoquartett.

Ausstattung und Technische Daten

Der neue Lamborghini Murciélago: zwölf Zylinder, 580 PS und 650 Newtonmeter. Dazu kommen Allradantrieb, 6-Gang-Schaltgetriebe, Leder und diverse Sicherheitsstandards wie ABS, Airbags und Traktionskontrolle – macht 215.180 Euro.