Nie mehr zu spät zur ersten Stunde: Dieser Schulbus fährt mit Jet-Triebwerk. AUTO BILD-Reporter Roland Kontny saß auf dem Beifahrersitz!
Gerd Habermann hat seine Hausaufgaben gemacht; er ist bereit. Sein Schulbus steht an der Startlinie, davor eine Viertelmeile Asphalt, dann das Ziel. Busfahrer Habermann, so stramm in seinen Sitz geschnallt, dass es wehtut, schließt die Augen und atmet dreimal kräftig durch. Was jetzt kommt, geht zu schnell, ist zu gewaltig, zu gefährlich, als dass er sich auch nur den kleinsten Fehler erlauben darf. Er macht das seit Jahren, doch Routine wird das hier nie. "Also los", sagt er leise. Gibt Schub.
Das Erlebnis ist aufregend, aber viel zu schnell vorbei
Supersport-Schulbus: Mit atemberaubender Vehemenz geht der Bus in unter zwei Sekunden auf Tempo 100.
Wir werden Richtung Horizont katapultiert. Und ehe ich weiß, ob ich lachen, staunen oder schreien soll, bremsen uns die beiden Fallschirme schon wieder ab. Ein bisschen wie der erste Sex: aufregend, aber viel zu schnell vorbei. Ein Flugplatz bei Wilhelmshaven, direkt am Jadebusen. Einmal im Jahr treffen sich Fans der gepflegten Beschleunigung zum Jade-Dragster-Race. Vom getunten Kleinwagen bis zum PS-Monster steht hier am Start, was abgeht wie eine Rakete. Beim gelb-schwarzen US-Schulbus von Gerd Habermann (56) ist das fast wörtlich zu nehmen: Ein 25.000-PS-Jet-Triebwerk beschleunigt das 1250-Kilo-Busimitat in unter zwei Sekunden auf Tempo 100. Der Schulbus startet deshalb auch in seiner eigenen Klasse – eine derartige Leistung hat kein anderes Fahrzeug hier.
Ein Jet-Triebwerk sorgt für einen Monster-Schub
Der Muskel der Höllenmaschine ist ein 25.000 PS starkes Jet-Triebwerk. Und das schiebt brachial!
Während ich mich umziehe – feuerfester Rennoverall, Halskrause, Helm –, checkt mein wortkarger Busfahrer die Lage: Wie eben ist die Strecke? Wie sieht der Boden an der Startlinie aus? Wie warm ist die Luft? Denn der Jet-Motor darf nie zu heiß oder zu kalt sein, sonst geht er hoch. "Fingerspitzengefühl", sagt Gerd nur. Eben noch hat er mit ein paar simplen Hebelstößen den Nachbrenner zum Fauchen gebracht wie einen Drachen auf Speed. Feuer und Qualm hüllen halb Ostfriesland ein. Alles nur Show. "Gehört dazu", meint Gerd. Ich sitze neben ihm und kann kaum atmen. Es dröhnt, es ist heiß und eng – und dann geht es los. Ich habe ein solches Beschleunigungsgefühl noch nicht erlebt. Auch nicht im Sportwagen. Weil keine Achse angetrieben, sondern der Wagen vielmehr mit Gewalt von hinten angeschoben wird, katapultiert mich der Raketen-Bus mit einer Schubkraft von 22 Kilonewton davon.
Von Tempo 300 im Schulbus träumen viele
Ein (Alb-)Traum wurde wahr: AUTO BILD-Reporter Roland Kontny durfte im Bus auf den Beifahrersitz.
Habermann hat den Schulbus 2013 in den USA gekauft und drei Jahre lang fit gemacht. Inklusive Westinghouse-Turbinentriebwerk, das auf den 402 Metern rund 200 Liter Kerosin schluckt. "Der einzige professionelle Dragster-Fahrer Deutschlands" nennt sich der Mann aus Hessen. Das macht ihn unter den 8000 Zuschauern zu einem kleinen Star des Wochenendes. Einmal bis Tempo 300 mitfahren, so wie ich heute, davon träumen hier nicht nur die Schulkinder auf den Tribünen. Sie kämen nie mehr zu spät zur ersten Stunde – allerdings dürfte die Schule nicht weiter als 500 Meter entfernt sein. Als das Jet-Auto mit der Schulbushülle wieder zum Stehen kommt, schlägt Habermann die Lenkung voll ein. Dann wird der Wagen zurück in die Box geschleppt. Der Auftritt dauert nur ein paar Sekunden, aber morgen ist ja auch noch ein Tag.
Einer aus Gerds Team bringt das Leben eines Dragsterfahrers auf den Punkt: "Hurry up and wait." Er beeilt sich, mit den Vorbereitungen fertig zu werden – und dann wartet man darauf, endlich für ein paar Augenblicke geradeaus fahren zu können. Die Zeit dazwischen: eine einzige große Pause.