Tour de France Femmes 2022: Comeback der Radsportlerinnen
Rückblick auf die erste Etappe der Tour de France Femmes
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Eine Tour de France der Frauen hat es 13 Jahre lang nicht gegeben – bis zu diesem Sommer. In Paris gaben sich Männer und Frauen die Klinke in die Hand. Unsere Reporterin hat sich das Spektakel der Tour de France Femmes 2022 in der französischen Hauptstadt angeguckt.
Bild: ASO/ Fabien Boukla
Es ist heiß, das Thermometer klettert über die 30-Grad-Marke. Die Mittagssonne brennt auf die 144 dicht an dicht stehenden Fahrerinnen unter dem Eiffelturm. Hinter ihnen hat sich eine lange Schlange aus Teamfahrzeugen gebildet, während eine Militärkapelle mit ihren Blasinstrumenten die französische Nationalhymne spielt.
Obwohl die Fahrerinnen an die letzten Sekunden vor dem Rennstart gewohnt sind – hier und heute ist alles anders. Jeder am Straßenrand richtet seine Kamera oder sein Smartphone auf das Starterfeld. Ein Hubschrauber kreist über der Szenerie – das Medienaufgebot ist immens. Alle warten auf den Startschuss zur ersten Etappe der Tour de France Femmes avec Zwift im Kalenderjahr 2022.
Die Fahrerinnen machen sich für die erste Etappe der Tour bereit.
Bild: ASO/ Fabien Boukla
Ende einer langen Wartezeit
Es ist die erste Frauen-Tour de France seit 13 Jahren – schon vorab ein Meilenstein für die gesamte Radsportwelt. Zwar hatte es zwischen 1984 und 2009 eine Vorgängerveranstaltung gegeben, aufgrund mangelnden Interesses in der Öffentlichkeit wurde sie jedoch eingestellt. So fuhren die Frauen seit 2014 die für den männlichen Radsport prestigeträchtige Rundfahrt nur noch als eintägiges Rennen, genannt La Course by Le Tour de France.
Seit diesem Sommer ist es wieder, was es sein sollte – eine richtige Rundfahrt mit acht Etappen. Die erste Etappe startet vor dem Eiffelturm und führt die 24 Frauenteams entlang der Seine zum Place de la Concorde und auf den berühmten Rundkurs zwischen Triumphbogen und Louvre. 81,6 Kilometer trennen die heutige Siegerin von der Übergabe des Gelben Trikots. Vollkommen egal welchen Geschlechts, von diesem Moment träumen Radsportbegeisterte schon im Kindesalter.
Eine Stadt in Feierstimmung
Manche Fahrerinnen im Peloton, wie Romy Kasten vom Team Jumbo Visma, sind schon zwischen 2014 und 2016 auf der Champs-Élysées gefahren. Zu der Zeit wurde La Course in der französischen Hauptstadt ausgetragen. Die Stimmung sei auch damals gut gewesen, schwelgt Kasten in Erinnerungen, doch die atemberaubende Atmosphäre und das heutige, überwältigend große Medieninteresse bringen auch die erfahrene Radsportlerin zum Staunen.
Direktorin der Frauen-Tour Marion Rousse, Tennis-Spielerin Amélie Oudéa-Castéra und UCI-Präsident David Lappartient eröffnen das Rennen (v.l.).
Bild: ASO/ Fabien Boukla
Nicht nur am Start, auch auf den Champs-Élyséesist die Stimmung gut. Entlang der Prachtstraße unterhalten sich die Leute angeregt miteinander, brüllen Fangesänge, wie man es von Fußballspielen kennt, oder warten gemütlich in mitgebrachten Klappstühlen. Eingehüllt in gelbe und weiß-rote Trikots, verwandeln sie die Champs-Élysées in eine Feiermeile für Radsportfans.
Sie warten auf das letzte Rennen der Tour de France der Männer, sichern sich fünf Stunden vor dem Startschuss Plätze mit guter Sicht entlang der Strecke. Die letzten Meter der Männer werden heute indes nicht das einzige Ereignis sein, das sie aus ihren Klappstühlen holt. Ein dröhnender Paukenschlag beendet die französische Hymne unter dem Eiffelturm und obendrein jegliches Palaver der Zuschauer. In die Stille hinein zählt der Moderator runter: „trois, deux, un“ – das Feld der Frauen schwingt sich in die Sättel, das Rennen ist eröffnet.
Vielversprechender Auftakt in Paris
In einer geschlossenen Gruppe fahren die Frauen die ersten Kilometer der diesjährigen Tour. Nach 6,8 Kilometern überqueren sie erstmals die spätere Ziellinie. Kaum vorstellbar, doch mancher Radsportfan am Straßenrand erfährt erst beim Anblick der vorbeisausenden Frauen von diesem Rennen. „Wir wussten gar nicht, dass es stattfindet. Aber es ist fantastisch anzusehen“, sagt der 46-jährige Tyler aus den USA.
Der Start ist erfolgt – unter den Augen zahlreicher Zuschauer.
Bild: ASO/ Fabien Boukla
Auch Cicilia (43), eine Lehrerin aus Prag, ist begeistert: „Es ist ziemlich cool. Ich habe vorhin mit jemandem gesprochen, der nicht wusste, dass es Frauen sind. Sie fahren sehr schnell, und die Leute realisieren jetzt, wie gut sie sind.“ Die Besucher sind sich einig: Die Wartezeit auf den Schlussakkord der Männer-Tour damit verbringen zu können, spannende Renn-Action anzuschauen, wird dankend angenommen. Folgerichtig kommt dem Frauenradsport diese Aufmerksamkeit zugute.
„Im Vorprogramm von den Männern zu sein, ist super. Die unglaubliche Atmosphäre ist positiv für uns und bringt uns richtig weiter“, sagt der Teamchef des Frauen-Radsportteams Ceratizit, Dirk Baldinger. Der ehemalige Radprofi lobt ausdrücklich auch die Organisation des Veranstalters, der Amaury Sport Organisation (A.S.O.), die neben der Männer-Tour seit diesem Jahr auch für die Frauen-Tour zuständig ist. Aufgrund seiner Karriere kenne er beide Seiten, verdeutlicht er. Unterschiede in der Herangehensweise des Organisators könne er keine feststellen – „wenn die A.S.O. etwas macht, dann macht sie es auch richtig“.
Ebenso zufrieden ist man auch beim Hometrainer-Hersteller und Titelsponsor Zwift. „Wir und die A.S.O. haben entschieden, dass es Zeit ist, die Kräfte zu bündeln. Wir arbeiten für das gleiche Ziel, und die Kommunikation ist wundervoll“, sagt Kate Veronneau, Director of Women’s Strategy beim Titelsponsor. Beiden Parteien gehe es darum, den Frauenradsport langfristig voranzutreiben, erklärt Veronneau.
Um das zu verdeutlichen, habe man bei Zwift schon vor der ersten Etappe einen Vier-Jahres-Vertrag als Titelsponsor der Tour de France der Frauen unterzeichnet. Zum Dank wird das Engagement auf den ersten Kilometern des Rennens durch die französische Hauptstadt mit spannenden Rennszenen seitens der Fahrerinnen belohnt.
Unweit des Eiffelturms umrunden die 144 Radsportlerinnen ein weiteres Pariser Wahrzeichen, den Arc de Triomphe am Ende der Champs-Élysées.
Bild: Eliot Blondet/ABACAPRESS/ddp images
Vollgas ab Tag eins
Schon heute, auf der ersten Etappe, geht es um viel. Neben der Gesamtführung und der Vergabe des Gelben Trikots stehen zwei Sprintwertungen und eine Bergwertung auf dem Tagesplan. Der Rennkalender dieser Tour hat nur acht Etappen, und die Fahrerinnen müssen von Beginn an taktisch clever agieren und immer wieder kräftezehrende Antritte wegstecken. Jeder Wertungspunkt ist für das Tour-Ergebnis entscheidend.
Umso ansehnlicher ist es für die Zuschauer. Ausreißergruppen, wie man sie im Männerrennen mit Glück ein, zwei Mal pro Etappe sieht, gibt es heute zuhauf. Viele versuchen ihr Glück – ob solo oder in der Gruppe – und werden dabei von lauten Zurufen mitfiebernder Radsportfans begleitet.Marianne Vos vom Team Jumbo Visma und Lotte Kopecky (SD Worx) können die Sprintwertungen jeweils in fulminanten Kopf-an-Kopf-Duellen für sich entscheiden. Die Bergwertung gewinnt die Niederländerin Femke Markus vom Team Parkhotel Valkenburg.
Dank zahlreicher Zwischenspurts und Ausreißergruppen ist es ein rasantes Rennen. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrerinnen im vorderen Feld liegt bei 52 Kilometer pro Stunde. Manchen wird die hohe Geschwindigkeit zum Verhängnis. Ein bitterer Beigeschmack beim historischen Tour-Auftakt: Mehrere schmerzhafte Stürze wie von der deutschen Bahnradweltmeisterin Laura Süßemilch (Team Plantur-Pura) auf den letzten Kilometern schocken Zuschauer und Mitwirkende der Tour. Auch Lotto-Soudal-Fahrerin Alana Castrique kommt im Peloton zu Fall, bricht sich sogar die Hüfte. Damit zerplatzt ihre Tour-Ambition noch vor dem ersten Schlussspurt.
Geglückte Staffelstabübergabe
Die finalen vier Kilometer brechen an. Ein letztes Mal um den Triumphbogen, ein letztes Mal um den Place de la Concorde. Kraftreserven mobilisieren für den Schlussspurt. Es geht um den Etappensieg. Die Teams bringen sich und ihre Fahrerinnen in Position. Plötzlich prescht Marianne Vos aus dem Peloton hervor, auf der anderen Straßenseite tut es ihr Etappenfavoritin Lorena Wiebes (DSM) gleich. Sie liegen gleichauf. Auf den letzten Metern scheint Wiebes die kräftigeren Beine zu haben und forciert ihren Sprint. Vos kann das Tempo nicht mitgehen. Begleitet von Jubelrufen, rollt Wiebes als erste Frau über die Ziellinie und reckt triumphal ihre Faust in den Pariser Himmel.
Die niederländische Team-DSM-Fahrerin Lorena Wiebes zelibriert ihren Sieg. Nach der Auftaktetappe ist sie die erste Trägerin des Gelben Trikots.
Bild: Imago
Die Premiere der Tour de France Femmes ist geglückt. Publikum, Fahrerinnen, Teams und Organisatoren sind begeistert. Der Start vor dem Männer-Rennen hat die Blicke der Radsportwelt auf die Fahrerinnen gelenkt und deren Potenzial aufgezeigt. Eine gelungene Art der Staffelstabübergabe, wie es Romy Kasten treffend bezeichnet.
Zukünftig soll die Frauen-Tour ausgebaut werden. Mehr Etappen und ein Zeitfahren plane man laut Veronneau gemeinsam mit der A.S.O. Auch die Auftaktetappe wolle man anders austragen. Mit gesteigerter Aufmerksamkeit werden die Frauen ihren eigenen Grand Depart bekommen und nicht langfristig als Prolog des Männer-Finales starten. Hoffentlich braucht es für diesen Schritt keine weiteren 13 Jahre.