Mit summend-schmatzendem Geräusch öffnen sich die Flügeltüren. Hinter der Schwelle warten eigentlich vertraute Dinge: zwei Schalensitze, hier aus lederbezogenem Carbon, Gas- und Bremspedal, ein Lenkrad, Zündschloss, Tacho, Drehzahlmesser. Und doch ist heute alles anders. Diese Flügeltüren gibt es weltweit 800 Mal, das dazugehörige Auto wurde 400 Mal gebaut. Und zum Listenpreis von 645.000 Euro an ausgewählte Kunden mehr verteilt als einfach nur verkauft. Die meisten fristen ein nicht eben artgerechtes Dasein in privaten Garagen. Doch dieser Enzo ist bereit für einen kurzen Ritt über kleine Landstraßen. Leichtes Herzklopfen stellt sich ein. Nach dem Zuziehen der ultraleichten Türen ein Blick in den Rückspiegel. Hinter dem Trumm von Motor dieses automoblen Traumes offenbart sich etwas rundlich Rotes mit kecken Scheinwerfern, nicht enden wollender Motorhaube und vollendet sinnlichen Linien. Ein weiterer Traum aus der Frühzeit der italienischen Marke mit dem springenden Pferd und für viele der Inbegriff des Straßen- und Rennsportwagens der 60er Jahre: Der 250 GT Berlinetta SWB (steht für Short Wheel Base) wurde nur 166 Mal gebaut (93 Lusso, 73 Competition) und ist in freier Wildbahn so gut wie nie zu sehen.

Tauglich im Alltag und auf der Rennstrecke

Blaskonzert: Der 250 GT trompetet aus zwei unübersehbaren Doppelendrohren.
Geschweige denn zu fahren. Das Herzklopfen wird heftiger. Der 250 SWB stammt aus einer Zeit, in der Rennsport von gut betuchten Herrenfahrern betrieben wurde. Seine Geschichte nahm ihren Anfang mit dem von Giacchino Colombo entwickelten, leichten V12 mit 2953 cm³, der erstmals 1952 in einen Rennwagen (250S) eingebaut wurde und bis 1963 viele Rennerfolge einfuhr. Dieses Aggregat trieb nicht nur den SWB an, sondern wurde auch im legendären GTO von 1963 verwendet. Der sehr handliche und leichte SWB wurde in zwei Versionen angeboten: einer komfortablen Lusso-Variante mit Stoßstangen und komfortableren Sitzen und einem Competition-Modell mit mehr Leistung und noch weniger Gewicht. Als erster Ferrari-GT hatte er Scheibenbremsen rundum und sicherte dem Werk 1961 den Konstrukteurs-Titel in der GT-Klasse. Die Beliebtheit des SWB erklärt sich aus seinen zwei Gesichtern: Dieses Fahrzeug konnte man unter der Woche im Alltag bewegen und am Wochenende über eine Rennpiste hetzen. Und das äußerst wettbewerbsfähig. Aber auch kostenintensiv, denn der harte Renneinsatz hinterließ oftmals tiefe Spuren, einige der SWBs endeten auf dem Schrottplatz. Ein Schicksal, das den meisten Enzos erspart bleiben dürfte, denn die früheren Herrenfahrer wurden heute weitgehend ersetzt von Sammlern, die ihrem Enzo nur sehr selten eine Ausfahrt gönnen. Und nur in Ausnahmefällen eine Rennstrecke aufsuchen. Was schade ist, denn hier könnte der Enzo glänzen.

Straßensportler ganz nah an der Formel 1

Supersportler aus Maranello: Die Gene des Enzo kommen aus der Formel 1.
Technisch liegt der Enzo näher an einem Formel-1-Renner als je ein anderer Straßen-Ferrari zuvor. Wie beim mit Alu-Teilen abgespeckten 250 SWB setzt auch der Enzo  auf Leichtbau. Die komplette Karosse besteht aus Kohlefaser, auch im Innenraum sorgt unlackiertes Carbon für einen sportlich-technischen Auftritt. Neben der aus der F1 adaptierten sequenziellen Schaltung mit variablen Zeiten oder den Keramikbremsscheiben floss vor allem in die Aerodynamik viel Know-how aus der Königsklasse des Motorsports. Die gewaltigen Lufteinlässe an der Front versorgen nicht nur Motor und Bremsen, sondern unterströmen den Unterboden und werden über zwei Diffusoren am Heck abgeleitet. Seinen maximalen Anpressdruck von 750 Kilogramm erreicht der Enzo bei etwa 300 km/h. Im Unterschied zur Formel 1 arbeitet der Straßenbolide jedoch mit variablen Spoilereinstellungen und einem absenkbaren Fahrwerk, was den Anpressdruck variiert. Diese Techniken gehen noch einen Schritt über die Formel 1 hinaus und sind dort verboten. Doch zurück zum Ausgang. Mit dem SWB im Nacken geht es im Enzo erst mal durch die Stadt. Bis auf die ausladende Karosserie fährt er sich völlig unproblematisch: Der Motor nimmt auch niedrige Drehzahlen ohne Murren hin, die Lenkung ist leichtgängig genug, das Schalten über die Paddel am Lenkrad ein Kinderspiel. Für einen Supersportwagen bietet der Enzo überraschend viel Langsamfahrkomfort.
Was aber nicht weiter interessiert, denn das Ortsausgangsschild ist schon zu sehen. Mit Rücksicht auf den beifahrenden Enzo-Besitzer wird es nur ein mildes Flipperspiel an den Kohlefaser-Schaltpaddels. Immerhin aber genug, dass der SWB im Rückspiegel rasend schnell zu einem kleinen roten Fleck in weiter Ferne wird. Der bis 8000 Umdrehungen reizbare Ferrari Enzo katapultiert sich unter metallischem Kreischen in Geschwindigkeitsregionen, in denen die Umwelt nur noch verwischte Farbflecke am Rande des Gesichtsfeldes hinterlässt. Das Fahrwerk scheint die Straße förmlich anzusaugen, doch selbst bei kräftigen Bodenwellen kommt keine Unruhe auf. Und das, obwohl das Enzo-Fahrwerk alles andere als brachial hart ist. Schon nach wenigen Kilometern fühlt man sich in dem sündteuren Boliden sauwohl. Wird immer schneller, bremst später, lenkt knapper ein, wechselt in den Race-Modus, möchte mal das Heck tänzeln … – Also genau der richtige Zeitpunkt für einen Fahrzeugwechsel.

Der SWB ist eine Augenweide in jedem Detail

Vor dem Einstieg in den SWB darf das Auge die femininen Formen umschmeicheln, bleibt an den wuchernden Snapps-Auspuffrohren (stammen aus dem Competition bzw. GTO) hängen, bestaunt die Borrani-Drahtspeichenräder, ergötzt sich an dem von einem Vorhängeschloss gesicherten Tankdeckel und führt die Hand zum verchromten Türöffner. Spärlich konturierte Sportsitze (aus dem Competition) und ein ultradünnes Holzlenkrad versprühen den Geist der 60er Jahre, Gurte gibt es nicht, dafür einen Extra-Schalter für die Benzinpumpe, den man zum Starten umlegen muss. Mit heiserem, aber sehr harmonischem Klangbild springt der SWB ins Standgas. Der dürre Schalthebel führt ohne Kulisse durch vier Gänge, der Rückwärtsgang liegt rechts vorn. Der volle, röhrende Sound des auf 300 PS getunten Colombo-Triebwerks mit den Sechsfach-Weber-Vergasern ist ein Genuss. Ebenso das perfekte Finish des SWB, als käme er gerade aus dem Verkaufsraum.
Heckansichten im Wandel der Zeit: dynamisch der Enzo, sexy der 250 GT.
Auf den ersten Metern fühlt sich das fragile Lenkrad ungewohnt an, aber schon nach ein paar Kurven fasst man Vertrauen in die zielgenaue Lenkung. Das nicht zu harte Fahrwerk der Lusso-Version wirkt etwas steifbeinig, was aber an der hinteren Starrachse und den Blattfedern liegt. Der Motor giert nach Drehzahl und lässt sich problemlos und unter vollem Einsatz eines zwölfchörigen Trompetenensembles bis 7000 Touren hochdrehen. 500 mehr wären noch drin, aber wir lassen’s mal gut sein. Schließlich handelt es sich bei dem Oldie um einen Typ, für den Fans bei Auktionen schon mal locker den dreifachen Wert eines Enzo auf den Tisch geblättert haben. Eines wird bei der kleinen Ausfahrt deutlich: Wo der SWB auftaucht, erzeugt er strahlende Gesichter. Ob das der Enzo  in 50 Jahren auch schafft?