Verzögern mit zweifacher Erdanziehung

Die Luft flimmert über dem Asphalt auf der hermetisch abgeriegelten Chrysler-Teststrecke in Auburn Hills bei Detroit. Die Schweißperlen auf meiner Stirn vermehren sich schneller als eine Horde Eintagsfliegen. Knapp einen Kilometer ist die Gerade lang – oder kurz. Im Heck des schwarzen ME Four-Twelve lauern 862 PS. Erweckt von zwölf Zylindern und vier Turboladern. Tom O'Dell guckt mich an und grinst: "Das ist jetzt genau wie in Oscoda. Nur hielt der Co-Pilot damals noch ein Laptop auf dem Schoß." Oscoda? Was zum Teufel ist Oscoda?

"Hey, Tom, was ist mit Osc ..." – weiter komme ich nicht. Tom gibt Vollgas. Infernalischer Lärm. Mein Hinterkopf knallt gegen die Kopfstütze, der Drehzahlmesser schnellt über die 6000er-Marke. Mein Organismus wehrt sich verzweifelt gegen die brachialen Kräfte. Dann wechselt Tom die Pedale: Vollbremsung. Der Kopf schnellt nach vorn, der Brustkorb wird in die Vierpunkt-Gurte gepreßt. Mir bleibt die Puste weg. Stille.

Langsam kehren die Augäpfel wieder in ihre Höhlen zurück. Laut Chrysler verzögern die Sechskolben-Carbon-Brembos mit zweifacher Erdanziehungskraft (2 g). Ich blicke nach links. Tom nimmt den Zahnstocher aus dem Mundwinkel und grinst wieder: "Genauso haben wir uns damals in Oscoda auch angeguckt und gedacht: Wow, das war wirklich schnell ...", erzählt der graumelierte Chrysler-Testingenieur.

Schneller als SLR, Carrera GT und Enzo

Sie hatten recht. Exakt 2,9766 Sekunden zeigte die Meßkurve für die Beschleunigung von null auf 60 Meilen pro Stunde (umgerechnet 96 km/h) an jenem Tag auf dem Luftwaffenstützpunkt in Oscoda/Michigan. Sieben Zehntel schneller als ein Mercedes-Benz SLR McLaren oder Porsche Carrera GT, eine halbe Sekunde schneller als der König der Supersportwagen, der Enzo Ferrari. Und all das mit einem Chrysler.

Okay, nicht mit irgendeinem. Gehütet wie die Kronjuwelen, abgeschirmt wie der Papst und gebaut, um die automobile Welt in Erstaunen zu versetzen. Bei der Detroit Autoshow 2004 feierte zunächst ein nur bedingt fahrfähiges Showcar Premiere. Die Reaktionen waren trotzdem so positiv, daß eine kleine Gruppe von Technikern mit dem Bau eines zweiten Wagens beauftragt wurde, der als echter Prototyp über die volle Leistung verfügen und sehr nah an eine mögliche Serienausführung heranreichen sollte.

In rekordverdächtigen zwölf Monaten war das Auto fahrbereit und auf Produktion getrimmt: Sämtliche US-Sicherheitsbestimungen werden erfüllt. Und im Gegensatz zu anderen Prototypen dieses Kalibers braucht der ME Four-Twelve kein hochoktaniges Rennbenzin, um die versprochene Kraft zu erreichen – er schluckt stinknormales Super plus.

Mattes Design wie Tarnkappenbomber

Die messerscharf geschnittene Form verdankt der ME Four-Twelve Brian Nielander, einem jungen Chrysler-Designer, der zuvor für Pick-ups zuständig war. Sein Vorschlag gewann eine interne Ausschreibung. Mit den kantigen, dreieckigen Flächen und der matten Lackierung erinnert Nielanders Kreation an den US-Tarnkappenbomber F-117A. Damit der Supersportler nicht abhebt, erhöht ein ausfahrbarer Heckflügel den Anpreßdruck, der bei 300 km/h rund 420 Kilo beträgt. Für die nötige Festigkeit sorgen ein Monocoque aus einer leichten Aluminium-Carbon-Wabenstruktur sowie Hilfsrahmen aus Chrom-Molybdän und Alu-Crashstrukturen.

Hat man sich erstmal über die mächtigen Schweller bis ins Cockpit vorgearbeitet, wird es spartanisch: Anders als das Showcar mit Volleder und polierten Aluminium-Verzierungen folgt der Prototyp einem anderen Anspruch: Funktionalität. Wie bei einem reinrassigen Rennwagen wurde auf Komfort komplett verzichtet. An Armaturenbrett, Türen und Dachhimmel sieht man auf gewichtssparende Kohlefaser. Das Lenkrad ist abnehmbar, jede Menge Kippschalter erinnern an ein Flugzeugcockpit und der Feuerlöscher im Beifahrer-Fußraum weckt Vertrauen, daß man beim Ritt auf dem Feuerstuhl nicht alleingelassen wird.

Mit unterdrücktem Gebrüll meldet sich nach dem Druck auf den großen Startknopf der Sechsliter-V12 aus Aluminium zum Appell. Das "Mittellage-Triebwerk" – der Begriff "Motor" klingt bei 862 PS beinahe verächtlich – stammt in seiner Ursprungsform vom SL 65 AMG. Vier luftgekühlte statt zwei wassergekühlte Turbolader sorgen mit einem Druck von 1,4 Bar für 250 Zusatz-PS und noch mehr Drehmoment: 1150 statt 1000 Nm. Bei einem Leergewicht von 1310 Kilogramm kommt der Four-Twelve auf ein Leistungsgewicht von 1,5 kg/PS – ein besserer Wert als bei Enzo Ferrari, McLaren F1 oder Bugatti Veyron.

Technische Daten und Fahrleistungen

Um die Ölversorgung bei den hohen Kurvenkräften stabil zu halten, wurde eine Trockensumpfschmierung entwickelt. Damit die Kraft möglichst verlustfrei auf den Boden übertragen wird, hat Chrysler Michelin-Pneus aufgezogen. Toms Kommentar: "Michelin wollte einen Spezialreifen anfertigen, aber wir haben einfach die Pilot Sport vom Carrera GT genommen. Das hat uns viel Zeit und Geld gespart."

Die 19-Zöller vorn und 20-Zöller hinten hängen an Doppelquerlenker-Achsen mit Schubstreben aus Stahl. Ein sequentielles Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe von Bugatti-Zulieferer Ricardo besorgt die Kraftübertragung. 400 km/h sollen machbar sein. Topspeed bislang: 336 km/h, allerdings nur im fünften Gang. "Mehr konnten wir noch nicht probieren", bedauert Tom O'Dell.

"Der Automatik-Modus funktioniert noch nicht, wie er soll. Das Getriebe bereitet uns Kopfzerbrechen, aber wir arbeiten daran." Sie arbeiten daran? Doch eine kleine Serie Produktionsautos? Eigentlich hatte Chrysler-Boß Dieter Zetsche vor einiger Zeit durchblicken lassen, daß entgegen ursprünglicher Absichten doch keine limitierte Auflage gebaut werde. Aber wer weiß – vielleicht sorgt DaimlerChrysler auf der IAA im September wieder für eine Überraschung? Mit gleicher Technik, aber mit einem Stern im Kühlergrill? Vielleicht arbeiten sie ja daran ...

Technische Daten: V12-Mittelmotor • vier Abgasturbolader mit Ladeluftkühler • drei Ventile je Zylinder • Hubraum 5980 cm³ • Leistung 634 kW (862 PS) bei 5750/min • max. Drehmoment 1150 Nm bei 3500 bis 5000/min • Hinterradantrieb • sequentielles Siebenganggetriebe • rundum Einzelradaufhängung mit Doppelquerlenkern • rundum innenbelüftetete Keramikbremsen • Reifen vorn 265/35 ZR 19, hinten 335/30 ZR 20 • Länge/Breite/Höhe 4542/1999/1140 mm • Leergewicht 1310 kg • Beschleunigung 0–96 km/h in 2,9 s • Höchstgeschwindigkeit etwa 400 km/h

Von

Ingo Roersch