Bravourös und fast beschwerdefrei

Zuverlässigkeit gehört zu jenen Tugenden, die den ewigen Treibstoff einer glücklichen Partnerschaft liefern. Das gilt für Menschen, Flugzeuge und natürlich auch für das Auto. Eine bekannte Erkenntnis, die mitunter leider schon mal in Vergessenheit zu geraten scheint.

Denken wir nur an Opel und die Mittelklasse. Seit 1988 versucht der Vectra, die Kunden zum Einchecken zu bewegen, dennoch haben viele mittlerweile auf Passat oder Mondeo umgebucht. Von den Gründen erzählen unsere bisherigen Dauertests. Der Vectra A kam 1991 trotz Allradantriebs nicht aus dem Pannensumpf und nervte mit vielen kleinen Defekten. Sein Nachfolger hinterließ 1998 zwar schon einen solideren, aber längst noch keinen souveränen Eindruck.

Also rollte am 28. Februar letzten Jahres ein Vectra C 2.2 16V in die Startposition zum 100.000-Kilometer-Langstreckenflug. Sein Ziel: alle Passagiere ohne Turbulenzen und Notlandungen ans Ziel bringen. Um es kurz zu machen: Noch nie absolvierte ein Opel den Test-Marathon derart bravourös und beschwerdefrei.

Untadelige Verarbeitung, hohe Qualität

Nach exakt 101.005 Kilometern entstiegen wir dem großen Opel, als hätten wir gerade einen Inlandflug hinter uns gebracht – und zwar in der Businessclass. Zwar spiegeln die Zulassungszahlen diesen Aufwärtstrend noch nicht richtig wider (Januar bis Juli 2004: 22.657 Vectra plus 7260 Signum; 55.272 Passat), im ewigen Dauertest-Medaillenspiegel landet der Rüsselsheimer aber auf Rang zwei. Hut ab, so eine Punktlandung würden wir gern auch mal wieder von den deutschen Nobelherstellern sehen.

Müssen wir den Vectra, bei dem auch die abschließende Totalzerlegung keinerlei Schwächen aufdeckte, also mit einer Senator-Karte ehren und zum Langstrecken- Liebling küren? Eindeutig ja. Oder wie Schlußredakteur Lorenz Burgmann im Mai 2003 sinnierte: "Komfortable Langstrecken-Limousine – erinnert mich irgendwie an den Senator."

In die Herzen der Testmannschaft fuhr sich der Vectra dabei vor allem mit seiner untadeligen Verarbeitung und dem hohen Qualitätsniveau. Rost kennt Opel mittlerweile ohnehin nur noch aus der Vergangenheit. Hier wird derartig perfekt konserviert, daß es eine wahre Freude ist. Auch beim Landeanflug im August dieses Jahres kamen keinerlei Klagen über den Komfort an Bord. Im Gegenteil. Bei Kilometer 54.000 notierte Tester Ingo Roersch: "Schönes Cockpit, gut verarbeitet – verleiht dem Wagen oberes Mittelklasse-Niveau."

Geräuschdämmung als Klassen-Maßstab

Auch später ließ der Vectra in Sachen Solidität kaum nach. Nichts klapperte oder schepperte, das Alter hätte niemand auf 100.000 Kilometer geschätzt – so ein Lob fährt nicht jeder ein. Vertrauen in das eigene Produkt spricht aus den langen Wartungsintervallen des Vectra. Nur alle 30.000 Kilometer muß die Werkstatt aufgesucht werden, die Zündkerzen halten sogar 120.000 Kilometer.

Daß solches Selbstbewußtsein durchaus gerechtfertigt ist, belegen die Garantie-/Kulanzfälle, die bei Opel zum Thema Vectra auflaufen. Allein von 2002 auf 2003 reduzierte sich deren Anzahl um 24 Prozent, die Kosten sanken um neun Prozent – und das, obwohl Opel zwei Jahre echte Garantie gewährt (anders als bei der Gewährleistung, zahlt Opel auch nach den ersten sechs Monaten, ohne daß der Kunde beweisen muß, daß der Mangel bei Auslieferung schon bestand).

Man muß schon lange zurückdenken, um sich an ein solches Qualitäts-Hoch im Hause Opel zu erinnern. Auch der 2,2-Liter-Vierventiler, inzwischen auf Benzindirekteinspritzung umgestellt, schaffte sich in der Redaktion fast nur Freunde. Zügig fraß er die Kilometer. Besonders schnelle Autobahnetappen sorgten immer wieder für Staunen: "Souverän und kultiviert", lobte Redakteur Bozo Furkes. Die effektive Geräuschdämmung des Vectra gilt bei Konkurrenten bereits als Maßstab der Klasse.

Viel Platz und gut abgestimmtes Fahrwerk

Die leise Revolution verführte natürlich immer wieder mal Kollegen dazu, etwas mehr Gas zu geben als nötig. Dafür verlangte der 2.2-16V ebenso natürlich Expreßzuschlag. Im Mittel flossen alle 100 Kilometer 11,3 Liter durch die Einspritzdüsen – was nicht nur angesichts hoher Spritpreise etwas zuviel des Guten ist. Das positive Gesamtbild krönten schließlich das großzügige Platzangebot und das sehr gut abgestimmte Fahrwerk. Nachrichtenmann Matthias Moetsch schwärmte: "Super, der zieht selbst übles Kopfsteinpflaster glatt."

Weder schnelle Autobahnkurven noch polnische Marterstrecken konnten den Vectra aus der Ruhe bringen. In Zeiten, in denen viele Hersteller einem regelrechten Sportlichkeitswahn unterliegen und Autos immer straffer federn, bietet Opel einen wohltuend komfortablen Kompromiß. Und dennoch blieb auch dieser Musterknabe nicht ganz von Kritik verschont.

Wie ein roter Faden ziehen sich Klagen über die gewöhnungsbedürftigen Blink- und Wischmanieren sowie die übervorsichtige Zentralverriegelung durch den Dauertest. Weil Blinken und Wischen im Vectra nicht mehr klassisch (und gut) über einrastende Schalter, sondern über elektronische Kontakte aktiviert werden, rasteten manche Fahrer schier aus.

Gerade beim Blinkerhebel war die Trennung zwischen leicht antippen (also dreimal blinken) und der Dauerfunktion nicht deutlich genug, so daß es öfter zum sogenannten Pendelblinken kam. Also Blinker links an. Beim Versuch, ihn wieder auszumachen, rechts geblinkt, dann wieder links und so weiter und so weiter. Ein wildes Durcheinander beim Blinken. Auch Opel hat mittlerweile diesen Unsinn eingesehen und mit deutlicherer Trennung der einzelnen Funktionen reagiert.

Poltergeister: Reifen und Dreiecklenker

Ebenfalls verbessert wurde die Arbeitsweise der Zentralverriegelung. Aus Angst vor dreisten Diebstählen an Ampeln oder Tankstellen öffnete sich auf den ersten Funkbefehl stets nur die Fahrertür. Alle anderen Türen sowie auch Tankklappe und Kofferraum erforderten weitere Drückerei am Schlüssel. Was Redakteur Manfred Klangwald zu der Vermutung veranlaßte: "Dieser Vectra muß wohl speziell für Diamanten-Spediteure gebaut sein." Inzwischen läßt sich die ZV glücklicherweise aber auch anders programmieren.

Neben diesen Elektronik-Kapriolen beunruhigte der Vectra bei Kilometer 40.750 plötzlich mit aufdringlichen Abrollgeräuschen. Und überraschte mit der Erkenntnis, daß wie schon beim Vectra B vor sechs Jahren die Reifen die Unruhestifter waren. Lärmten damals Continental-Gummis, waren es diesmal Bridgestone Turanza ER 30. Ein Tausch sorgte für Ruhe – und entspannte Gesichter bei Opel.

Kurz vor Schluß outete sich schließlich ein weiterer Poltergeist. Wegen Spiels am Kugelkopf des vorderen rechten Dreiecklenkers knackte es doch bedenklich im Achsgebälk. Den fälligen Tausch hätten die Opelaner auf der anderen Seite besser gleich miterledigen sollen, denn auch hier wäre in absehbarer Zeit eine akustische Warnung erfolgt. Laut Opel ein Einzelfall, der auch in Leserkreisen unbekannt scheint. Allerdings einer, den der Kunde im Normalfall teuer bezahlen dürfte. Denn anders als in unserem Dauertest braucht der Normalfahrer für 90.000 Kilometer wohl deutlich länger als 15 Monate.

Dennoch stehen wir auch nach Zerlegung von GG–VV 871 staunend vor dieser Erfolgs- Story. Hätte im Februar 2003 jemand behauptet, dieser Vectra wird neue Qualitäts- Maßstäbe im Dauertest setzen, wir hätten nur den Kopf geschüttelt. Eineinhalb Jahre später sind wir schlauer und kommen zum Fazit: So verdienen die Rüsselsheimer endlich wieder das Prädikat "Opel, der Zuverlässige".

Technische Daten und Wertung

Der Vectra-Dauertest ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Hersteller verspieltes Vertrauen in seine Produkte Stück für Stück zurückgewinnen kann. Das Rüsselsheimer Rezept: Die Ingenieure machen lassen und nicht ständig die Kostenrechner fragen. Schon klappt’s mit der Qualität.

Bei der Demontage fielen nur riefig eingelaufene hintere Bremsscheiben negativ auf. Die haben aber auch 101.005 Kilometer zuverlässig verzögert. In absehbarer Zeit wäre zudem der Wechsel des linken Dreiecklenkers fällig geworden. Die Werkstatt hätte bei Tachostand 89.233 besser auf beiden Seiten ausgewechselt. Insgesamt hat die Vectra-Technik den Test souverän überstanden.

Preise und Kosten

Mein lieber Mann, die Kostenbilanz ist nicht so erfreulich wie die Technik: Der Renault Laguna war im Dauertest pro Kilometer ein Drittel billiger im Betrieb (12 statt 18 Cent) und immer noch 20 Prozent günstiger bei Berücksichtigung des Wertverlusts (29 statt 35 Cent je Kilometer).