Paradebeispiel für Liebe auf den ersten Blick

Auf dem Türschweller steht "Handbuilt in England" – einst eine Drohung, inzwischen ein Versprechen, das eingelöst wird, sobald der Zündschlüssel im Schloß steckt. Dann erscheint auf dem rechten Display das Aston-Martin-Logo und auf dem linken leuchten die Worte Power, Beauty and Soul auf. Keine Frage: Dieses Auto hat die Markeninhalte verinnerlicht, mit denen die kleine Ford-Tochter den großen Sportwagenherstellern ein paar tausend Kunden pro Jahr abspenstig machen will.

Unter der Regie von Ulrich Bez, der früher BMW und Porsche das Laufen lehrte, entstehen seit ein paar Jahren geniale Herzensbrecher wie der DB9 Volante. Dieser Wagen ist ein Paradebeispiel für Liebe auf den ersten Blick. Wobei man vor der ersten gemeinsamen Nacht klarstellen sollte, daß als Bedingung für die Zweisamkeit ein gedeckter Scheck in einer Höhe von mindestens 157.000 Euro (Basispreis) erforderlich ist. Aber man wird ja noch träumen dürfen. Wir tun das auf dem Weg von Gaydon nach Cannes, wo das Filmfestival jedes Jahr seine Leinwandhelden feiert. Der offene DB9 läuft außer Konkurrenz – großes Kino für die Straße, aber leider erst nach längerer Wartezeit zu haben.

An der Croisette unten am Meer votiert die Zufalls-Jury der Schönen und Reichen unseren Volante direkt in den Olymp der Traumcabrios – Bravo, Applaus, Abgang, der nächste bitte. Der offene Aston macht selbst im Stop-and-go-Verkehr reiche Beute. Den Mädels verdreht er durch seine schiere Präsenz den Kopf, den Buben reicht ein Erster-Gang-Zwischenspurt als akustische Anzahlung für spätere Genüsse. Ob sich auch echte Promis wie Cathérine Deneuve oder Robert de Niro für uns interessieren, bleibt ein Geheimnis, denn die wirklich wichtigen Menschen sitzen im abgedunkelten Fond schwarzer Renault und Peugeot – ein Leben wie ein schlechter Film.

Die Fahrleistungen sind schlicht sensationell

Der Volante fährt sich verbindlicher und entspannter als das Coupé, das eher spröde abrollt und nach jeder Querfuge schnappt. Das Cabrio federt komfortabler, doch weil die Karosserie prinzipbedingt weniger steif ist, registriert man deutlichere Aufbaubewegungen und eine nicht immer perfekte Synchronisation zwischen Vorder- und Hinterachse. Vor allem auf seitliche Anregungen reagiert der Wagen mürrisch, die Lenkung arbeitet nicht mehr ganz so rasiermesserscharf, und in engen Kurven folgt die schwere Schnauze weniger bereitwillig der Ideallinie. Außerdem ärgert der mit zwölf Metern viel zu große Wendekreis.

Der DB9 ist ein geschmeidiger Gran Turismo, der lange Strecken liebt und zu hohen Durchschnittstempi animiert. Der 6,0-Liter-V12 leistet 457 PS und 570 Nm, die keine drei Kurven brauchen, um die fetten Bridgestones auf Temperatur zu bringen. Die Sechsgangautomatik gliedert das gewaltige Drehmoment-Drehbuch in sechs Episoden, die nahtlos ineinander übergehen. Zum Umblättern verwendet man die Schaltpaddel am Lenkrad oder drückt die D-Taste in der Mittelkonsole.

Die Filmmusik des Testwagens ist eine Neueinspielung von Rock meets Classic: Bis 3000 Touren dringen nur gedämpfte Geräusche aus dem Orchestergraben, doch zwischen 3000 und 6000/min gibt der DB9 ein imposantes Open-air-Konzert, gegen das selbst die 950 Watt (!) starke Stereoanlage keine Chance hat. Die Fahrleistungen sind schlicht sensationell. Beim Spurt von null auf 100 bröckelt 5,2 Sekunden lang der Putz vom Tunnel zur Autoroute. Auch zwischen 100 und 200 km/h schnürt der Aston Martin derart zügig in Richtung Horizont, daß so mancher Gendarm an eine optische Täuschung glauben mag.

Offenporige Holz, kaum behandeltes Leder

Während das Coupé die 300-km/h-Marke knackt, wird der Volante bei 265 eingebremst – vermutlich, um sich nicht selbst bei lebendigem Leib zu skalpieren. Die Verbräuche entsprechen dem Budget amerikanischer Media-Magnaten: Im Schnitt sind 16,5 Liter pro 100 km angesagt. Doch wenn sich der DB9 die Kante gibt, rauschen 25 und mehr durch die zwölf Kehlen. Super plus, versteht sich. Einzig der Blick auf die zeitlos schön gezeichnete Tankuhr versüßt diesen Verlust feinsten Brennraummaterials.

Das Volante-Cockpit ist eine betont moderne Bühne der Eitelkeiten, deren elektrischer Vorhang sich in 17 Sekunden hebt und senkt. Selbst das geschlossene Verdeck steht dem Briten so gut, als hätte Mr. Burberry persönlich Hand angelegt. Auch das offenporige Holz und das nahezu unbehandelte Leder sind stilgerechte Requisiten. Doch das Platzangebot im Aston Martin orientiert sich allzu sehr an den untypischen Idealmaßen der Zelluloidbranche. Die hinteren Sitze sind nur durch Kopfstützen und Sicherheitsgurte geadelte Ablagenischen, und die Mittelkonsole wurde offenbar von einem Designer entworfen, der mit dem Zug zur Arbeit fährt. Auch die Handbremse hockt dort, wo man sie am wenigsten gebrauchen kann – neben dem Schweller, im Canyon zwischen Oberschenkel und Türtafel.

Trotz dieser Schwächen ist es beinahe unmöglich, dem Charme des Aston Martin DB9 nicht zu erliegen. Der coole Brite trifft scheinbar mühelos die goldene Mitte zwischen Perfektion und Emotion. Wohl dem, der ihn gegen die 2005 in Cannes cineastisch aufbereitete Midlife-Crisis einsetzen kann. Die schlägt immer öfter schon mit 30 oder 35 zu, um uns dann nicht mehr loszulassen, bis viele Einstellungen später die letzte Klappe fällt.

Technische Daten V12-Motor • vier Ventile je Zylinder • Hubraum 5935 cm³ • Leistung 336 kW (457 PS) bei 6000/min • maximales Drehmoment 570 Nm bei 5000/min • Hinterradantrieb • Sechsgang-Automatik • Einzelradaufhängung vorn/hinten • Kofferraum 195 Liter • Tank 80 Liter •Länge/Breite/Höhe 4710/1875/1280 mm • Reifen 235/40 und 275/35 ZR 19 v/h • Gewicht 1930 kg • Verbrauch 16,5 Liter/100 km • 0–100 km/h in 5,2 Sekunden • Spitze 265 km/h • Preis 161.200 Euro

Von

Georg Kacher