Vom Familienwappen auf die Bentley-Haube

Erinnern Sie noch die Zeit, als jeden zweiten Tag im Wirtschaftsteil der Zeitungen von "Synergieeffekten" zu lesen war? Wenn irgendein Konzern einen anderen übernahm, dann wurde das neue "Zusammenwirken" inniglich beschworen. Dann jubelten die Bosse, daß jeder vom Wissen des anderen profitiere, dadurch stärker würde und natürlich noch mehr Geld verdiene. Das Gegenteil war oft der Fall. Beispiel: Die Übernahme von Chrysler durch Daimler-Benz anno 1998. Der "Hochzeit im Himmel" (Jürgen Schrempp) folgte, wie wir wissen, ein nüchternes Erwachen auf dem Erdboden.

Doch es gibt auch gute Beispiele. Bentley ist so eines. Ebenfalls 1998 übernahm Volkswagen den Luxuswagenbauer, bei dem es dann kontinuierlich bergauf ging. Im letzten Jahr erwirtschaftete Bentley einen "kleinen" Gewinn, wie Vorstandsvorsitzender Franz-Joseph Paefgen stolz mitteilte. Für das Jahr 2005 erwartet er aber einen "ordentlichen" Gewinnsprung. Und wem verdankt er das? Dem Phaeton von Volkswagen. Viele seiner Elemente stecken im Bentley Continental, Gene von Audi Audi A8 und VW Touareg sind ebenfalls dabei. Die neueste Modell-Mix-Mutation heißt Bentley Continental Flying Spur, gesprochen "flei-ing spör", mit gehauchtem "Ö".

Der "fliegende Sporn" war das Wappen der schottischen Familie Johnstone, die einst den Geschäftsführer des Karossiebauers H. J. Mulliner stellte. Das grundsätzliche technische Rückgrat des Continental Flying Spur bilden das Fahrwerk und der permanente Allradantrieb vom Phaeton. Dessen zentrales Torsen-Differential ist jedoch gar keine VW-, sondern Audi-quattro-Technik aus dem A8. Der Radstand des langen Phaeton von exakt drei Metern wurde für den Flying Spur nochmals um 6,5 Zentimeter verlängert. Nahezu stoischer Geradeauslauf ist also garantiert.

Gigantischer Durchzug von 80 bis 120 km/h

Im Überfluß vorhanden: die Leistung. Vorn summt ein Zwölfzylinder in der von VW kreierten W-Form. Die englischen Ingenieure pushen den Sechsliter mit Borg-Warner-Biturbos auf stramme 411 kW/560 PS. Dank ihrer Feinabstimmung steht das maximale Drehmoment von 650 Newtonmetern schon ab 1600 Umdrehungen bereit, erst ab 6000 Touren fällt es ab. Bei so viel Leistung erarbeitet sich der fliegende Sporn das blaue Band der Autobahn: Mit 312 km/h ist er die schnellste viertürige Serienlimousine der Welt. Bei ersten Probefahrten in England konnte dieses Versprechen leider nicht nachgeprüft werden. Auch eine Neuheit blieb unsichtbar.

Ab Tempo 250 soll sich die luftgefederte Karosse vorn um zehn und hinten um 25 Millimeter senken, das Heck wirkt dann wie ein Diffusor, ein Spoiler kann entfallen. Entwickler Keith Sharp: "Das verbessert spürbar die Stabilität, verringert den Auftrieb und verbessert den Geradeauslauf auch bei Höchsttempo." Doch auch in tempobegrenzten Ländern (fast die Hälfte der Continental-Produktion soll in den USA verkauft werden) wird der Flying Spur seinen Insassen zeigen, was in ihm steckt. Wer ihm die Sporen gibt, der muß den Atem anhalten. Dann schießt der Spur wie ein Dampfhammer in 5,2 Sekunden auf Tempo 100 und in weniger als 20 Sekunden auf 200. Gigantisch auch der Durchzug von 80 bis 120 km/h: Dieser kritische Überholbereich soll in 3,3 Sekunden vorbei sein.

Für ebenso souveräne Verzögerung besitzt der Bentley riesige Bremsscheiben mit vorne 405 und hinten 335 Millimeter Durchmesser. Ohne Vierradantrieb und Antriebsschlupfregelung (ASR) hätte der Sporn arge Traktionsprobleme. Die Reifen können einem auch so leid tun: Die 275 Millimeter breiten Michelin oder Pirelli müssen nicht nur die Kraft auf die Straße bringen, jeder 19-Zöller (auf Wunsch auch 20 Zoll) stemmt dazu noch die Last von 620 Kilo, denn das Leergewicht der Limousine liegt mit 2475 Kilogramm auf Geländewagen-Niveau. Einzig die Hauben bestehen aus Leichtmetall, die Engländer setzen auf Stabilität aus hochfestem Stahl. Nur so bleiben laut Entwicklungschef Ulrich Eichhorn "auch oberhalb von 300 km/h Handlichkeit und Komfort erhalten".

Ein Auto weniger, als der Markt verlangt

Der Zweieinhalbtonner ist also weit entfernt von behäbiger Beförderung, wie es diese Klasse erwarten läßt. Er neigt zwar zum Gleiten, verblüfft aber bei jedem Ampelstart mit Sportwagen-Temperament. Die Sechsstufenautomatik schaltet dabei so, als ob sie gar nicht vorhanden wäre: nahezu unhörbar. In diesen (Preis- und Tempo-) Sphären zwar unüblich, aber dennoch nötig: ein Blick zur Benzinuhr. Die 90 Liter im Tank erlauben 600 Kilometer Reichweite, aber auch schon 200 Kilometer früher kann die Tankanzeige nervös nach Super Plus blinken. Denn der Durchschnittsverbrauch pendelt sich – je nach Fahrer-Temperament – so zwischen 15 und 22 Liter ein.

Balsam für gestreßte Nerven verheißt der Innenraum. Fünf Personen haben grenzenlose Beinfreiheit und können sich wohlig auf den riesigen Ledersesseln vorn und der Rückbank kuscheln (hintere Einzelsitze kosten 5900 Euro). Für deren Bezug und den der Armaturen sollen elf Rinder ihre Haut gelassen haben. Überall schauen die Insassen auf edelste Manufaktur, denn bei Jahresstückzahlen von maximal 4500 Stück ist Handarbeit angesagt. Exakt 167.504 Euro kostet der Anglo-Germane, handeln soll zwecklos sein. Denn die Stückzahlen werden knapp gehalten. Bentley-Chef Franz-Joseph Paefgen selbstbewußt: "Wir werden immer ein Auto weniger bauen, als es der Markt verlangt." Im vergangenen Jahr produzierte Bentley insgesamt 6680 Autos, in diesem Jahr sollen es bereits 9000 werden. Mal sehen, ob der Chef recht behält.

Wer sich im ehemaligen Rolls-Royce-Werk in Crewe umsieht, trifft dort nur hochmotivierte Bentley-Arbeiter. Vier Tage wird in zwei Schichten gearbeitet, am fünften werden die Bauteile-Kisten am Fließband wieder aufgefüllt. Stolz tragen die Jungs ihre schicken grünen Overalls auch noch nach Feierabend. Mögliche Ängste vor dem deutschen Eigentümer haben sich mit den Jahren verflüchtigt. Immerhin besteht die Zahl der Mitarbeiter jetzt aus 3800 Beschäftigten, 550 davon sind Ingenieure, die bei der Konstruktion des fliegenden Sporns viel Vorarbeit geleistet haben.

Technische Daten, Fahrleistungen, Preis

Die vordere Vierlenker-Achse und die hintere Mehrlenker-Konstruktion des Allradlers wurden dem höheren Gewicht des Viertürers gegenüber dem zweitürigen GT angepaßt, auch vermeintliche Kleinigkeiten wie etwa das ESP wurden neu abgestimmt. Um die Abrollgeräusche noch besser zu dämpfen, sitzt die Hinterachse auf einem extra Aluminiumrahmen. Der Auspuff würde trotz aller Dämpfungsmühen vor allem innen zu laut geklungen haben, hätten nicht die Engländer ein Interferenzrohr eingebaut.

Es verbindet beide Abgasstränge und landet einen akustischen Trick: Schallwellen der einen Seite überlagern die der anderen – und umgekehrt. Lärm bekämpft sich also selbst. Zusätzliche Klappen im Auspuff sorgen dann für den verhalten-kraftvollen Sound, den ein Zwölfzylinder seinen Insassen und der staunenden Umwelt schuldig ist.

Verblüffenderweise wird Autos oberhalb der 150.000-Euro-Klasse selten Sozialneid entgegengebracht. Passanten interessieren sich eher für Technik, PS und Preise – wenn sie denn mal einen solchen Schlitten zu Gesicht bekommen. Bentley hat aktuell einmal ermittelt: In der Preisklasse zwischen 150.000 und 300.000 Euro wurden vor zwei Jahren weltweit 15.500 Autos abgesetzt, im letzten Jahr waren es 11.986. Davon, so stolz die Bentley-Gentlemen, entfiel die Hälfte auf den Continental GT. Mit dem Flying Spur dürfte die Zukunft der Volkswagen-Tochter jetzt noch rosiger aussehen.

Technische Daten: W12-Benzinmotor, vorn längs • zwei Turbolader mit Ladeluftkühler • 4 Ventile je Zylinder • Hubraum 5998 cm³ • Leistung 411 kW (560 PS) bei 6100/ min • max. Drehmoment 650 Nm bei 1600/min • permanenter Allradantrieb über Torsen- Zentraldifferential, elektrische Schlupfregelung • Sechsgang-Automatik • Einzelradaufhängung v/h • Luftfederung v/h • innenbelüftete Scheibenbremsen v/h • Reifen 275/40 R 19 • Länge/Breite/Höhe 5307/1918/1479 mm • Radstand 3065 mm • Leergewicht 2475 kg • Kofferraumvolumen 475l • Tankinhalt 90l • Zuladung 465 kg • 0–100 km/h in 5,2 Sekunden • Höchstgeschwindigkeit 312 km/h • Preis: 167.504 Euro