Die wichtigste Neuheit im neuen Ferrari 599 GTB Fiorano ist der Haltegriff links vom Beifahrersitz. Daran kralle ich mich gerade fest, mit weißen Knöcheln und stummer Hoffnung im Blick. Raffaele am Steuer wird wissen, dass alles gutgeht. Dass wir mit 180 über diese Bergstraße fliegen können, dass wir auf Zentimeter genau an den Leitplanken vorbeizirkeln. Draußen zischt ein Wegweiser vorbei: "Monta ...", weiter kann ich nicht lesen. Der jüngste und stärkste Serien-Ferrari fliegt auf haushohe Felsmauern zu, wendet Millisekunden vor dem Crash wie vom Magneten gelenkt. Währenddessen erklärt Raffaele di Simone, Ferrari-Testfahrer und Mit-Entwickler des 599, in aller Seelenruhe den Manettino, den kleinen Lenkradschalter, der in Bruchteilen das Fahrwerk umkrempelt: "Übrigens, die Race-Position erlaubt leiche Slides ..." Genug, ich habe das wahre Gesicht des Ferrari erlebt! Die Race-Position bitte später. Dabei hatte der Morgen so ruhig begonnen. Ferrari präsentiert den neuen 599 GTB, die Antwort auf Edel-Überflieger der 400.000-Euro-Liga, auf Porsche Carrera GT oder Mercedes SLR.

Die Italiener reagieren markentypisch: reichliche 620 PS, ein Schuß Formel-1-Geblüt, hinreißendes Aussehen. Bei Pininfarina hat ein Künstler namens Jason Castriota (merken wir uns den Namen) den 599 GTB so hingezaubert, dass er Rennen schon im Stand gewinnt. Der 599 besitzt Power, Präsenz, Prestige. Schwungvolle Stille in den großen Ausmaßen, gewagt in Details wie den elf (!) Luftöffnungen – nach dem GT-haften Vorgänger Maranello tritt hier ein echter Sportwagen an, benannt nach der hauseigenen Rennstrecke Fiorano. Dortige Lufttemperatur: 23 Grad. Mein Puls: geschätzte 250.

Im 620-PS-V12 wäre noch mehr drin

Der 599 GTB ist nicht nur atemberaubend gezeichnet, er fährt sich auch so.
Doch die erste Begegnung ernüchtert wie kalter Cappuccino. Startknopf im Lenkrad drücken, Automatik rein. Es gibt keine fauchende Auspuff-Fanfare (die Klappen in den Endrohren öffnen erst bei 4000 Umdrehungen). Die Recaro-Sitze passen unitalienisch gut, die neue SCM-Dämpfung schluckt Straßenlöcher, die bei uns "Aufbau Ost" heißen. Die ganze Allmacht rollt los wie jeder normale Golf. "Der 599 muß ein Alltags-Auto sein", sagt Ferraris Chef-Entwickler Massimo Fumarola, "für unsere Kunden, die im Schnitt 10.000 Kilometer fahren." Ja, ja, immer die Côte d'Azur lang ...

Ich lenke mit 120, 130 hinauf in die Berge, die sechs Liter Hubraum joggen gelangweilt und schießen mich trotzdem hoch auf die Hügel. Der hochmoderne Zwölfzylinder aus dem Übertier Ferrari Enzo ist auf 620 PS heruntergedrosselt (!), und Raffaele di Simone auf dem Beifahrersitz behauptet allen Ernstes: "Da sind wir noch konservativ, der Motor könnte mehr." Mehr? "Wofür?" frage ich und bitte ihn ans Steuer. Der 26jährige gibt Gas und betet die Technik herunter. Aluminium statt Stahl senkt das Gewicht trotz Längenzuwachs um 50 Kilo, der 20 Kilo leichtere Motor liegt tiefer und weiter hinten, 53 Prozent des Gewichts lasten auf der Hinterachse. Das mit Metallpartikeln durchsetzte Dämpferöl verhärtet sich blitzschnell durch Anlegen eines Magnetfelds. Die F1-Schaltung, die jeder zweite Käufer wählt, knallt die Gänge in 100 Millisekunden rein (die Formel 1 braucht 50, ein guter Handschalter 400 Millisekunden). Wir biegen auf den Rennkurs von Fiorano ein. Bis Tempo 100 vergehen offizielle 3,7 Sekunden, "ein Durchschnittswert, aber gute Fahrer schaffen 3,5", so Raffaele. Und die Top-Speed? "Über 330 km/h", meint er lakonisch.

Technische Daten, Fahrleistungen und Preis

Der Zwölfzylinder jagt die Nadel über den zentralen Drehzahlmesser, erst bei 8400 Umdrehungen fällt der elektronische Vorhang. Was für ein Sound! Das Klanggemälde des hochdrehenden V12 übertrifft jeden brüllenden Achtzylinder, den mechanisch vollstreckenden V10 des Porsche sowieso. Mir glühen die Gehörgänge. Bei Tempo 300 sollen die hinteren Dachsäulen, die als Finnen dienen, 150 Kilo Abtrieb auf die Hinterachse pressen. Ach ja, der Manettino schaltet in fünf Stufen, von Eis bis heiß, sprich: Race Position. Dämpfung, Schaltzeiten, Schaltpunkte und ESP werden schrittweise schärfer. "In der mittleren Position", sagt Raffaele, "fährst du wie Schumacher." Na toll, spiel' ich halt Michael. Der 599 klebt in den Spitzkehren wirklich am Boden, folgt im schnellen S jedem Fingerzucken, lenkt messerscharf ein. Angeberisches Übersteuern gilt als langsam und out, ESP hat es weggezüchtet. Auf diesem Kurs ist der GTB, so heißt es, nur eine Sekunde langsamer als der rennmäßige Enzo. So schieße ich dahin, einen imaginären Alonso im Visier, blicke stolz zum Beifahrersitz – wo Raffaele telefoniert. Er guckt mich entschuldigend an. "Ich vertraue dir!" Er meint bestimmt das Auto.

Technische Daten: V12 • vier Ventile pro Zylinder • vier obenliegende Nockenwellen • Hubraum 5999 cm³ • Leistung 456 kW (620 PS) bei 7600/min • max. Drehmoment 608 Nm bei 5600/min • Hinterradantrieb • Sechsganggetriebe • Einzelradaufhängung rundum • Tank 105 Liter • L/B/H 4665/1962/ 1336 mm • Reifen vorn 245/40 ZR19, hinten 305/35 ZR 20 • Leergewicht 1690 kg • Spitze über 330 km/h • 0–100 km/h in 3,7 s • Verbrauch 21,3 l/100 km • Preis: 213.500 Euro

Von

Joachim Staat