Wikipedia ist eine feine Sache. Wo man früher dicke Folianten wälzen musste, bringen heute ein paar Mausklicks die Information auf den Bildschirm. So erfährt man etwa, dass der Schöckl überwiegend aus Glimmerschiefern und Kalken besteht und der südlichste bedeutende Gipfel im Grazer Bergland ist. Leider verheimlicht Wikipedia, dass Magna-Steyr – vormals Steyr-Daimler-Puch – hier seit Jahrzehnten eine böse Geländeteststrecke unterhält: Mit seinen felsigen, schlammigen, geröllbedeckten Marterstrecken trug der Berg seinen Teil zur Entwicklung des wohl bekanntesten automobilen Kindes der steyrischen Landeshauptstadt bei: des Mercedes G.

Der echte Fan betrachtet den "G Pur" verklärt

Mercedes G 280 CDI Edition Pur
Freier Blick ins Tal: Die Stürme der letzten Jahre haben Löcher in den Wald am Grazer Hausberg Schöckl gerissen.
Legenden ranken sich um das von Mercedes gern als "Urgestein" bezeichnete kantige Gefährt, das seit gut 30 Jahren in Graz hergestellt wird. Und die "alten Hasen" wissen amüsante Anekdoten zu berichten: Von Sonderversionen, die nach dem Lastenheft irgendeiner Armee entwickelt, aber letztlich nie ausgeliefert wurden, weil der bestellende Staat inzwischen in einem Putsch untergegangen war; oder von östlichen Oligarchen, die gleich drei identisch aussehende G-Klassen ordern, eine gepanzert und zwei ungepanzert, um potenzielle Attentäter abzulenken. Oft schon sollte der eckige Geländegänger auf den Scheiterhaufen des Fortschritts geworfen und die Fertigung eingestellt werden; und immer wieder wurde er weiterentwickelt, geänderten Kundenbedürfnissen und gesetzlichen Vorgaben angepasst. Der verklärte Blick des wahren Fans stellt sich allerdings weniger ein, wenn Neuerungen wie die automatische Stördatenaufzeichnung des vollelektronischen Motormanagements oder die verbesserte Tastenbelegung des Multifunktionslenkrads diskutiert werden, sondern wenn es um die G-Modelle der ersten Stunde geht, die sich noch mit mageren 72 PS durchs Gröbste kämpften und bei denen ein vierstufiges Lüftungsgebläse als bedeutende Komfortsteigerung gefeiert wurde.

Der Klassiker fährt sich schwerfällig – und lärmt

Mercedes G 280 CDI Edition Pur
Einfach-Heizung, Kurbelfenster, aber Sensor-Bedienfelder und großes LCD-Display im Cockpit.
Dabei wird dann auch gern philosophiert, ob ein neuer G 500 oder G 320 CDI überhaupt noch ein "richtiger" Geländewagen sei mit all seinem Edelholz und Leder, das man doch in Ölgy oder Ouagadougou gar nicht brauche. Ob all dies nur Lippenbekenntnisse sind oder der ernsthafte Wunsch nach dem echten, ursprünglichen, puristischen G tatsächlich so groß ist, werden die kommenden Monate zeigen. Tituliert als Sondermodell zum 30. Geburtstag nimmt Mercedes eine Zivilversion des aktuellen Militärmodells ins Sortiment. So ganz echt, so ganz urig und so ganz einfach ist der "Edition Pur" genannte Hardcore-G aber doch nicht. Auch er hat reichlich Elektronik – wenn auch in ein wasserdichtes Panzerschränkchen zwischen den Vordersitzen verpackt. Ohne die geht es eben heute nicht mehr – die Abgas- und Zulassungsbestimmungen verböten ein echtes Revival des 240 GD von 1979. Im Fahrgefühl ähnelt der Neue dem Alten allerdings schon. Viel schwerfälliger als die aktuelle Komfort- G-Klasse folgt der "Pur" den Befehlen der dramatisch gedämpften Lenkung. Man sitzt auf frugalen Transportersitzen mit hakeligen Einstellhebelchen und graukarierter Stoffpolsterung – oder, preisgleich, schweißtreibendem Kunstleder. Bei Schlaglöchern holpert’s; flotte Fahrt auf gewundenen Landstraßen oder abruptes Bremsen quittieren die schmalen Reifen mit traurigem Heulen.
Kein ESP greift ein, wenn ein unvorsichtiger Pilot mit Geschwindigkeiten um die Ecke sticht, für die dieses Auto nicht gebaut ist – nur das kurveninnere Vorderrad dreht durch. Das Radio vermisst man nicht, man hört ja dafür den Motor gut: Schalldämmstoffe gibt’s nicht unter den Gummimatten, die man für die Hochdruckwäsche des Innenraums einfach herausnehmen kann. Wem das dann doch zu urig ist, der kann den "Pur" stilvoll pimpen lassen: Zwei aufeinander aufbauende "Offroad-Pakete" bringen originelle und teils auch zweckvolle Extras in und an das stets mit vier Einzelstühlen möblierte Gehäuse. Eine begehbare Motorhaube mit Antirutschbeschichtung etwa; oder massive Holzdielen mit Verzurrschienen im Laderaum; Schutzgitter für Scheinwerfer und Blinker; und das 73.661 Euro teure Spitzenmodell hat sogar elektrische einstellbare Außenspiegel und eine Klimaanlage. Verweichlicht? Mag sein – aber auch nicht schlecht, wenn man mal ehrlich ist. Genauso wie der kräftige V6-Diesel nebst Fünfstufenautomatik: Der ist zwar vielleicht nicht nostalgisch stilecht, bringt aber den paramilitärischen Kletterkünstler souverän auf Trab und in Händen eines kundigen Fahrers auch über die grimmigsten Stellen der Schöckl-Pisten hinweg. Ob der Fahrspaß dabei allerdings wirklich größer ist als beim Komfort-G mit Klimaautomatik und iPod-Interface, das muss jeder selbst entscheiden.

G-Modelle

Spezial-G: Hier sind Ausnahmen normal. Auch wenn die Preisliste Serienfahrzeuge ausweist: Sonderversionen für besondere Fälle gehören zum G wie die plane Scheibe.

Mercedes G 280 CDI Edition Pur
Wer will, kann das schlichte Sondermodell "Pur" mit Extras aufbrezeln.
Von Anfang an hatten Sonderversionen beim Mercedes G, früher noch schlicht als G-Modell, nicht als G-Klasse bezeichnet, besondere Bedeutung. Auf Basis des noch in einem frühen Stadium befindlichen Steyr-Puch-Geländewagens mit dem internen Projektnamen H2 sollte ein Militärgeländewagen entwickelt werden, von dem der damalige persische Schah und Daimler-Benz-Großaktionär Mohammad Reza Pahlavi 20.000 Stück bestellt hatte. Der Auftrag wurde dann zwar wegen des Machtwechsels im Iran storniert, aber die Entwicklungsmannschaft hatte etwas bewiesen: aufgrund des variablen Fahrzeugkonzepts und der flexiblen, nicht automatisierten Fertigung auf G-Basis fast jede erdenkliche Sonderversion innerhalb überschauberer Zeit auf die Räder stellen zu können.
Mercedes G 280 CDI Edition Pur
Die aktuellen Militär-G für Kanada verfügen wegen der pannensicheren Reifen über spezielle, teilbare Felgen.
Jüngster Spross dieser Sonderfahrzeug-Ahnenreihe ist der für das australische Militär entwickelte, rechtsgelenkte 6x6-Dreiachser, der mit einem Gesamtgewicht von bis zu neun Tonnen locker neun Soldaten samt schwerer Ausrüstung oder auch eine 3,20 Meter lange Arbeitsplattfrom transportieren kann. Den Antrieb besorgt der im aktuellen Militär-G übliche Dreiliter-Sechszylinder-Turbodiesel. Insgesamt sind weltweit Armeen in 34 Ländern mit Militärgeländewagen auf Mercedes-G-Basis unterwegs. Trotz der Notwendigkeit bedingungsloser Zuverlässigkeit hat die Weiterentwicklung auch vor den Militär-G nicht haltgemacht. So sind moderne Motoren, Automatikgetriebe und auch der jederzeit nutzbare, permanente Allradantrieb heute kein Privileg der straßenorientierten Komfortversionen mehr. Am anderen Ende der Skala stehen hochkarätige Performance-Versionen, die es mit 500 PS und mehr auch als extralange Sieben- oder Achtsitzer gibt.

G-Produktion

Mercedes G 280 CDI Edition Pur
Ob "Hochzeit", Schweißen oder Kontrolle: Die Produktion des G ist großteils Handarbeit – ein Auto ist in etwa zehn Tagen fertig.
Traditionelle Tugenden kennzeichnen auch die Fertigung des G-Modells im Grazer Werk. Die Produktion ist zu 95 % Handarbeit; deshalb schrauben hier kaum billige Anlernkräfte – rund 85 % der Werker sind qualifizierte Facharbeiter. Eine Automatisierung der Produktion wäre wegen der vielen unterschiedlichen Varianten nie möglich gewesen und hätte sich aufgrund der relativ geringen Stückzahlen auch nicht gelohnt: Insgesamt verließen seit 1979 rund 200.000 Stück die Hallen. Über die genaue Zahl der Militärmodelle schweigt sich die Werksleitung aus.

G-Treffen

Der Schöckl rief – und die G-Fans kamen. Zum 30. Geburtstag der G-Klasse lud der G-Club zum Treffen. Rund 600 Fans kamen aus aller Welt – mit über 280 G-Modellen aus 28 Ländern. Optischer Höhepunkt war die Parade auf dem Karmeliterplatz – fahrerisches Zuckerl die Fahrt im eigenen G auf den legendären Schöckl.

Von

Thomas Rönnberg