Das Entsetzen hat sich gelegt. Die Formel 1 fährt an diesem Wochenende zum zweiten Mal in Saudi-Arabien. Und selbst die Erinnerung an den Raketeneinschlag unweit der Rennstrecke als Folge eines blutigen Krieges gegen die Huthi-Rebellen im Jemen im vergangenen Jahr verursacht keinen Aufschrei mehr. Im Gegenteil: Fahrer wie Sergio Perez (Red Bull) und Lance Stroll (Aston Martin) loben die positiven Veränderungen im Königreich, die auch durch die Formel 1 in Gang gesetzt wurden.
Nur ein Pilot wehrt sich gegen das Bild von der heilen Welt im autoritär geführten Wüstenstaat. Lewis Hamilton versucht es zumindest. Er habe „nicht viel zu ergänzen“, betont der Mercedes-Star in der offiziellen Pressekonferenz am Donnerstag vor dem Rennen in der Hafenstadt Jeddah, und nimmt dann zumindest die Gegenposition seiner Vorredner für sich in Anspruch: „Ganz im Gegenteil zu dem, was sie sagten“, so würde er sich positionieren.
Auf mehrmaliges Nachfragen hin konkretisiert er seine Gedanken zwar nicht, gibt sie aber zumindest „frei für Interpretationen“ und wünscht allen Personen vor Ort „ein sicheres Wochenende“. Hamilton setzt sich seit Jahren vehement und öffentlich für Menschenrechte, gegen Unterdrückung und gegen Diskriminierung ein. Doch auch seine Stimme droht immer mehr zu verstummen. 
Schuld ist eine neue Regel, die den schnellsten Männern der Welt einen Maulkorb verpasst. Ende Dezember vergangenen Jahres hatte der Automobilweltverband sein Regelwerk zu politischen Meinungsäußerungen in weiser Voraussicht verschärft. Seitdem stellen „politische, religiöse und persönliche Äußerungen“ einen Regelverstoß im internationalen Sportgesetz unter Punkt 12.2.1 dar. Es sei denn, sie sind vorher genehmigt worden.
Nur Hamilton übt Kritik am Rennen in Saudi-Arabien.
Bild: Jiri Krenek / Mercedes

Kritik üben will deshalb niemand an der Austragung des Rennens an einem Ort, der immer noch mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wird. „Ich ziehe es vor, die Frage nicht zu beantworten“, gibt sich Valtteri Bottas wortkarg, als die Sprache auf Saudi-Arabien kommt. Auch seine Kollegen Alex Albon und Yuki Tsunoda wirken, als fühlen sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut.
Für Klartext müssen deshalb die einschlägigen Menschenrechtsorganisationen sorgen. „Dieses Rennen findet in einer Zeit statt, in der die Hinrichtungen wieder zunehmen, 13 in den vergangenen zwei Wochen, von denen wir wissen“, zitiert der britische Guardian Maya Foa, die Direktorin von „Reprieve“. „Das zeigt, wie ermutigt das Regime von Mohammed bin Salman geworden ist. Zuversichtlich, dass es sich auf das Schweigen der Formel 1 verlassen kann.“
Im Mittelpunkt der Kritik: das so genannte Sportswashing. Demnach sei es das Ziel des Königreichs, „das Image des eigenen Landes durch die Ausrichtung von Sportveranstaltungen und deren positive Berichterstattung in den Medien zu verbessern“, erklärt Amnesty International. Ende 2023 wird Saudi-Arabien unter dieser Prämisse Gastgeber der Fußball-Club-WM sein, Ambitionen als Ausrichter der Fußball-WM 2030 sind auch kein Geheimnis. Die Verpflichtung von Cristiano Ronaldo dient als weiterer großer Coup. Ab 2027 hat man sogar einen zweiten Formel-1-GP in Qiddiya ins Auge gefasst.
Um des lieben Geldes Willen macht die Königsklasse mit bei der sündhaft teuren PR-Aktion (900 Millionen Dollar für zehn Jahre), die dem Land eine weiße Weste verpassen soll. „Ich bin sicher, dass jeder, der hierher kommt, beeindruckt sein wird“, lässt sich F1-Boss Stefano Domenicali vor dem Event werbewirksam zitieren. „Es wird ein unglaubliches Event werden und viel für das Land und die Stadt bedeuten.“
Doch weder neue FIA-Regularien noch blumige PR-Lobhudeleien können Unrecht vergessen machen. Yasser al-Khayyat, dessen Bruder kurz vorm letztjährigen GP vom Regime hingerichtet wurde, schreibt an Domenicali: „Wenn Sie wirklich wollen, dass die Formel 1 einen Wandel herbeiführt und nicht nur ein Werkzeug ist, um die saudischen Missstände zu vertuschen, dann beenden Sie bitte das Schweigen der Formel 1.“
Wer in dieser Situation fehlt, ist Sebastian Vettel. Der zurückgetretene viermalige Champion hätte sich den Mund nicht verbieten lassen. „Ich bin ja nicht mehr dabei, da kann ich jetzt natürlich viel sagen“, betonte er im Vorfeld der Saison zu F1-Insider.com. „Aber ich wünsche mir selbstverständlich, dass die Jungs in der Formel 1 auch weiterhin den Mut haben für ihre Meinung zu stehen und diese auch zu äußern. Ich glaube, es ist absolut wichtig, dass man zu manchen Themen Stellung bezieht.“
Sportswashing durch die Formel 1 in Saudi-Arabien gehört dazu.

Von

Bianca Garloff