Der Automobilweltverband FIA hat eine Untersuchungskommission im Fall Bianchi gebildet. AUTO BILD MOTORSPORT erfuhr: Gestern Nachmittag hat die FIA einen Brief an alle elf Formel-1-Teams verschickt (siehe Foto unten). Darin die Aufforderung, einer unter der Präsidentschaft von FIA-Sicherheitschef Peter Wright neu gegründeten Kommission sämtliche verfügbaren Daten, Dokumente und Tonbandaufnahmen hinsichtlich des Unfalls zur Verfügung zu stellen. Außerdem ­– so erfuhr AUTO BILD MOTORSPORT – soll der Franzose Laurent Mekies ab sofort als „Direktor für Sicherheit“ bei allen Formel-1-Rennen vor Ort sein. Ob der ehemalige Toro-Rosso-Ingenieur an der Seite oder anstelle von Rennleiter Charlie Whiting agieren soll, wurde noch offen gelassen. In der Szene wirft der Inhalt des Briefes indes Fragen auf. Warum, so heißt es, fordert die Kommission erneut Unterlagen zum Unfall an, obwohl Marussia diese Dokumente nach eigener Aussage doch längst zur Verfügung gestellt habe.

Marussia rechtfertigt sich

FIA
Das Original: Der Brief der FIA an die Teams
Hintergrund: Das Team des verunglückten Jules Bianchi hatte am Morgen heftig auf eine AUTO-BILD-MOTORSPORT-Geschichte vom 13. Oktober reagiert. Darin veröffentlichten wir Informationen, wonach Marussia seinen Fahrer vor dessen schweren Unfall aufgefordert habe, trotz starken Regens, extrem rutschiger Fahrbahn und abgefahrener Intermediate-Reifen schnell genug zu fahren, um den direkten Konkurrenten Marcus Ericsson (Caterham) hinter sich zu halten. „Jules verlangsamte unter den doppelt geschwenkten gelben Flaggen. Das ist eine unwiderlegbare Tatsache, welche durch die Telemetriedaten, die der FIA vom Team zu Verfügung gestellt wurden, bewiesen wird", so die Marussia-Stellungnahme.

Kontrollverlust bei 212 km/h

Man beruft sich auch auf Aussagen von FIA-Rennleiter Charlie Whiting, die dieser bei einer Pressekonferenz während des Großen Preises von Russland getätigt hatte. „Jules hat sein Tempo zurückgenommen", so Whiting, der im gleichen Zusammenhang aber auch sagte: „Allerdings kommt es auf den Grad an. Manche haben mehr, andere etwas weniger verlangsamt." AUTO BILD MOTORSPORT liegen jetzt neue Informationen vor. Demnach wurde Bianchi in der Unfallkurve in Runde 41 mit 217 km/h gemessen. Direkt hinter ihm hat Sauber-Pilot Adrian Sutil da das Auto verloren und krachte in die Streckenbegrenzung. Umgehend wurden von den Streckenposten auch gelben Warnflaggen doppelt geschwenkt, die dazu auffordern das Tempo erheblich zu verlangsamen. Eine Runde später wurde Bianchi in der Unfallkurve mit 212 km/h gemessen. Dabei verlor er die Kontrolle über den Marussia, kollidierte mit dem Bergungsfahrzeug und zog sich schwerste Kopfverletzungen zu.

Unverantwortliches Tempo

Sotschi
Die F1-Kollegen gedachten zuletzt in Russland ihrem schwer verunglückten Fahrerkollegen
Das heißt: Bianchi fuhr zwar in der Tat langsamer als die Runde zuvor, aber nur im marginalen Bereich. Er verlangsamte seine Geschwindigkeit unter doppelt Gelb nur um knapp 2,4 Prozent. Diese Reduzierung des Tempos wird in Formel-1-Kreisen als „unverantwortlich“ bezeichnet. Zum Vergleich: Autos auf ähnlichem Leistungsniveau wie der Marussia, die aber bei den schwierigen Umständen mit wesentlich besseren und frischen Regenreifen ausgestattet waren, fuhren zur gleichen Zeit in der Unfallkurve zunächst 210,2 km/h und eine Runde später 197 km/h. Die Geschwindigkeit wurde hier also deutlicher reduziert.

Chilton war viel langsamer

Interessant ist auch der Vergleich der Rundenzeiten von Bianchi mit seinem Teamkollegen Max Chilton. Beide waren auf fast gleich abgefahrenen Reifen unterwegs. Chilton hatte in Runde 23, also eine Runde früher als sein Teamkollege auf Intermediates gewechselt. In Runde 40 fuhr Chilton eine Rundenzeit von 1.58.841 Minuten, Bianchi 1.57.174 Minuten. Eine Runde später, als Sutils Unfall passierte, schloss Bianchi die Runde mit 1.57.090 ab. Chilton verlangsamte da extrem, fuhr vier Sekunden langsamer (2.01.217min). Merkwürdig ist auch, dass Bianchi in den beiden letzten Sektoren in Runde 41 plötzlich – trotz nochmal schlechterer Bedingungen – die eigentlichzu einem extremen Verlust der Rundenzeit bei allen Autos führen müssten, mehr als drei Zehntel schneller fuhr als die Runde zuvor. Selbst Top-Autos wie der Red Bull von Daniel Ricciardo mit nur sechs Runden alten Intermediate-Reifen fuhren in der Runde, in welcher Bianchi noch mal beschleunigte, langsamer - der Australier fast eine Sekunde.

Von

Ralf Bach
Bianca Garloff