Allrad, 410 PS, Dreizack im Grill: Wir lehrten im Maserati Ghibli den Winter das Fürchten – beim wilden Ausritt auf abgesperrten Schneepisten.
Minus elf Grad in Breuil-Cervinia am Matterhorn, der eigene Atem vernebelt die Aussicht auf den Charakterberg, und vor 45 Jahren hätten wir uns besorgt gefragt, ob er wohl anspringt, der schöne Ghibli. Schließlich wurde er nach einem heißen Wüstenwind und nicht nach Polarluft benannt. Wenn er's geschafft hätte, dann mit Spucken und Spotzen seiner von vier Weber-Doppelvergasern genährten acht Zylinder und tiefem Mitleid im Herzen, denn so einem Rassetriebwerk tat man so etwas eigentlich nicht an. Heute dagegen: kurzer Druck auf den Startknopf – und "Brröööööh". Das Ding läuft rund, als wäre Sommer in Nizza. Beim Losfahren knirscht der Schnee unter den 275er-Pirelli-Sottozero, und es besteht nicht der geringste Zweifel, dass der neueste Maserati, der wieder den stärksten Namen des Hauses tragen darf, die 14-Prozent-Steigung zum Hotel so locker nimmt wie der Ur-Ghibli die Promenade des Anglais an der Côte d'Azur.
Der V6 trötet auf Knopfdruck archaisch wie ein Alphorn
Video: Maserati Ghibli S Q4
Allradantrieb für den Ghibli
Wie jener Ghibli von gestern an der Steigung ausgesehen hätte? Tauschön, natürlich, aber auch wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Selbst mit Sandsäcken im Kofferraum wäre das mondäne Giugiaro-Coupé nie hier raufgekommen, höchstens mit Schneeketten. Aber ein Ghibli von 1969 mit Schneeketten? Also bitte! Das einzige bekannte Exemplar, das mal im Winter zu sehen war, das vermoderte auf einem Schrottplatz in Kalifornien. Selbst ein Normal-Ghibli von heute hätte im Schnee seine Probleme. Doch die misslichen Zeiten sind nun gegen Aufpreis vorbei. Maserati serviert in seinen Limousinen Allradantrieb, nennt ihn Q4, verheiratete ihn mit dem neuen 3,0-Liter-Sechszylinder-Twinturbo-Motor, der auf 410 PS abgeschmeckt wurde, und schickt seine noble Kundschaft nun lässig auf den Weg ins Skiresort oder eigene Bergchalet. Macht das auch Spaß? Und ob! Besonders in der Stellung "Sport" links neben dem mit Einstellungen nicht dünn besetzten Automatik-Wählhebel. Bei der werden Klappen im Auspuff geöffnet, und der V6 trötet nun archaisch wie ein Alphorn, auch wenn das ein bisschen halbstark wirkt. Dann das Fahrwerk auf "hart" gestellt, die ZF-Schaltung auf "M" (mit hackmessergroßen Schaltpaddeln in Millisekunden für die acht Gänge) und sämtliche Elektronik-Sicherungsnetze auf "Off". Ahh, schon haben wir eine Renn-Limousine mit Ledersesseln und Lounge-Ambiente.
Das Fahrstabilitätsprogramm lässt sich komplett deaktivieren
Schön quer: Wer beim Allrad-Ghibli das ESP abschaltet, kann die Sportlimousine in den Drift zwingen.
Wir pfeilen über einen hart gefrorenen Rundkurs. Die lang gezogenen Bodenwellen, Rillen und Verwerfungen beuteln das Mehrlenker-Fahrwerk, doch der eher mit dem Heck befreundete Allradantrieb lässt den Viertürer trotzdem in leicht zu beherrschende Drifts schwingen. Besonders schön in aufeinander folgenden S-Kurven, in denen die eine der anderen den Gegenschwung wie eine hübsche Ouvertüre mitgibt, so wird das eine flüssige Bewegung wie beim Schneewalzer. Vor allem weil das Ausschalten des ESP tatsächlich sein Aus bedeutet. Das geht alles ganz easy in diesem Wolf im Schafspelz, der mindestens genauso tauschön aussieht wie sein legendärer Vorfahr, auch wenn das heute nicht mehr groß auffällt, weil wir so mit Design verwöhnt werden. Nur die 180-Grad-Kehren der Piste verlangen erhöhte Vorsicht, denn hier liegt blankes Eis. Bin ich zu schnell, ich spreche von Tempo 30, und lenke ein, tendiert der Ghibli (wie jedes Auto) zum penetranten Untersteuern. Daher der Griff in die Trickkiste. Beim fortgeschrittenen Q4-Fahren muss man bei diesen eisigen Passagen ordentlich einpendeln, das Heck komplett herumschwingen lassen und dann nicht vergessen, beherzt aufs Gas zu steigen, quasi als Umkehrschub, während man noch in die falsche Richtung unterwegs ist.
Alle 550 Newtonmeter am Radquartett (nun gehen 50 Prozent nach vorn, 50 nach hinten) schießen die Fuhre sogleich in die korrekte Richtung, wie Bugs Bunny, der in die Luft hüpft, seine Hinterbeine auf 8000 Umdrehungen bringt und wie eine Rakete abgeht. Nur empfehlenswert auf abgesperrter Strecke mit vieeel Platz. Bitte! Danke! Was lerne ich aus diesem Rundkurs? Es tun sich eine Million Möglichkeiten auf, nur eine blödsinnige Kurve zu fahren. Manche meiner Versuche – ich will nichts beschönigen – gehen dabei in die Hose. Aber es ist ergreifend, wie so eine Nobel-Lounge-Limo zu swingenden Kunststückchen fähig ist und zur Schneekanone wird. Auch auf der kurvigen, trockenen Passstraße vom Aosta-Tal hinauf nach Breuil-Cervinia mimt der 1,9-Tonnen-Ghibli mit heiserem Geschrei und wunderbarer Fahrwerk- und Lenkpräzision den Sportwagen, wobei er irreal schnell sein kann. Schwer vorstellbar, dass da irgendwer sonst mitkommt.
Mit dem Allradantrieb wollen die Italiener in Amerika punkten
Traktionshilfe: Im Ghibli arbeitet ein dem BMW xDrive ähnlicher Allradantrieb mit Lamellenkupplung.
Beim Schneefahren geht die Präzision allerdings naturgemäß im unregelmäßigen Untergrund mit seinen ständigen Wechseln der Reibwerte verloren, Folge ist ein Dauer-Pingpong von wortlosem Frage-und-Antwort-Spiel. Ich frage das Auto, ob der eingestellte Lenkwinkel für diese Kurve genehm ist, und der Untergrund antwortet an die Ganzkörpersensoren, bitte ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, je nachdem. Ein kontinuierlicher Prozess ist das, und das macht es so erregend, so befriedigend. Es ist der totale Fluss, in den man gerät, die totale Konzentration, die Vereinigung von Mensch und Maserati, als wär das Auto ein Körperteil. Ach Gott, ich freu mich ja wie ein Schneekönig! Daher jetzt mal wieder Normaldrehzahl: Das Allradsystem mit Lamellenkupplung stammt von Magna-Steyr, ganz ähnlich wie beim BMW xDrive, jedoch mit Maserati-Charakter, also sportlicher. Warum Maserati so einen Antrieb überhaupt anbietet? Amerika. Der US-Markt, Maseratis Nummer eins, verlangt ihn. Dort gibt es den Trend zur Komplett-Verallradung der Autos, eine Folge des amerikanischen Selbstverständnisses – wir können es auch Anspruchsdenken nennen –, alles haben zu wollen, was geht. Mit dem Rundumantrieb sorgt der Q4-Ghibli (und sein nun ebenfalls verallradeter großer Bruder Quattroporte Q4) für die Ausweitung der Verkaufszone.
Die Firma will nächstes Jahr 50.000 Autos an den Kunden bringen, zurzeit sind's 20.000. Wir heißen das gut als Maßnahme gegen den globalen Rückgang an italienischem Geist. Mit Letzterem sieht die Welt nämlich einfach besser aus. Einen gravierenden Nachteil der Allradtechnik konnten wir nicht feststellen. Sie wiegt nur 60 Kilo mehr, der Verbrauch soll (angeblich) nur 0,1 Liter über dem der Hecktriebler liegen, und 2970 Euro Aufpreis für das System – etwa so viel wie das Navi – sind in der Preisklasse über 80.000 Euro eine eher schon drollige Petitesse.