Schon das Einsteigen ist pure Lust. Nervös öffnet die Hand die Flügeltür, das rechte Bein entert vorsichtig den Fußraum. Hüfte eindrehen, Gesäß langsam an der Rückenlehne in den Sitz gleiten lassen und das linke Bein nachholen. Dann geht alles ganz einfach: Tür schließen, Zündschlüssel ins Schloss, alle Systeme auf Go. Die Benzinpumpe läuft an, stoppt. Kurze Pause. Dann findet der Daumen, was er sucht, drückt den unter einer Klappe im Automatik-Wählhebel versteckten Startknopf. 5,4 Liter Hubraum, verteilt auf acht Zylinder, erwachen brüllend zum Leben. Herzlich willkommen an Bord des Mercedes SLR McLaren Edition 722, einem auf 150 Exemplare limitierten und leistungsgesteigerten Sondermodell des SLR. Wer angesichts des Zusatzes 722 auf ebendiese PS-Zahl gehofft hat, wird enttäuscht. Der SLR 722 leistet "nur" 650 PS und somit 26 PS mehr als die Basis. Die Zahl 722 soll an den ersten Mercedes SLR erinnern. Der feierte seine Geburtsstunde 1955 beim Start während der Mille Miglia, gewann das Rennen in Rekordzeit. Der Fahrer: Stirling Moss. Die Startzeit: 7:22 Uhr.

Im SLR 722 regieren brachiale Hubraumpower und Kompressordruck

Mercedes SLR McLaren 722 Edition
52 Jahre später läuft sich unser SLR 722 um diese Zeit gerade in der Boxengasse warm. Der V8 bollert derart vor sich hin, dass einem bereits heiß ist, bevor Öl und Wasser auch nur in die Nähe der idealen Temperatur gekommen sind. Dann, als die Abwärme längst die Luft über der langen Motorhaube zum Flimmern gebracht hat, gibt die Öltemperaturanzeige das O.K. 90 Grad Celsius, los geht's. Die kalten Reifen ringen um Halt auf dem kühlen Asphalt, die Traktionskontrolle hat Mühe, den Vortrieb zu regulieren. Also runter vom Gas, Reifen warmfahren. Geplant ist eine volle Aufwärmrunde, am Ende ist es nur eine halbe, für mehr reicht die Geduld nicht aus. Es ist der Motor, der ihr ein Ende setzt. Hier gibt es kein Hochdrehzahlkonzept, stört kein Turboloch. Hier regiert brachiale Hubraumpower, gepusht von der Kraft eines jaulenden Kompressors. Die Leistungssteigerung verdankt der Motor einem geänderten Management, das auch das maximale Drehmoment von 780 auf 820 Newtonmeter ansteigen lässt. Beeindruckende Zahlen, die aber nicht ansatzweise das beschreiben können, was die Insassen an Bord erleben.

Das ESP lässt sich nicht vollständig deaktivieren

Mercedes SLR McLaren 722 Edition
Das Ansprechverhalten des Motors ähnelt einer Explosion. Aus dem Drehzahlkeller heraus prügelt der mit einer Fünfstufenautomatik gekoppelte Achtzylinder derartig los, dass einem Angst und Bange wird. Tempo 100 ist in 3,9 Sekunden erreicht, 7,1 Sekunden später sind es bereits 200 km/h. Untermalt wird der Katapultstart von einem V8-Gehämmer, das Zuhörern eine Gänsehaut verursacht. Auf der Rennstrecke wird dennoch schnell klar, dass der SLR 722 trotz seiner direkten Lenkung, der um zehn Millimeter abgesenkten Karosserie und der Kooperation mit McLaren kein reinrassiger Sportwagen ist. Denn obwohl die Karosserie aus leichtem Carbon besteht und das Sondermodell um 44 Kilo abgespeckt wurde, bringt es der Flügeltürer auf 1,7 Tonnen Leergewicht. Und diese Masse drängt, besonders in engen Kurven, deutlich nach außen. Erst untersteuernd über die Vorderräder, dann – bei abgeschaltetem ESP – blitzschnell übersteuernd über die Hinterräder. Doch trotz der eigentlich perfekten Voraussetzung von 650-Hinterrad-PS und einem 2,7 Meter langen Radstand ist der SLR 722 kein begnadeter Drifter. Dafür lässt sich das – in normalen Fahrsituation durchaus nötige – ESP nicht vollständig abschalten und aktiviert sich ab einer gewissen Querbeschleunigung wieder. Für beeindruckende Fotos reichte es trotzdem.
Etwas anderes fanden wir aber ganz und gar nicht beeindruckend. Obwohl der SLR 722 über riesige Keramikbremsscheiben verfügt, zeigte die Brembo-Anlage bereits nach vier schnellen Oschersleben-Runden und einer Bestzeit von 1,43:10 min deutliche Anzeichen von Überhitzung. Von einem Fahrzeug für mindestens 476.000 Euro, das zusammen mit einem Formel-1-Rennstall entwickelt wurde, darf, nein muss man mehr erwarten können. Selbst wenn der typische SLR-Kunde sicher seltener auf der Rennstrecke anzutreffen ist als etwa bei seiner Autosammlung. Oder, sollte er das gute Stück einmal bewegen, auf der Autobahn. Denn hier offenbart der SLR 722 im Morgengrauen seine größte Stärke: das sehr schnelle Reisen. Selbst als die Tachonadel längst die 300-km/h-Marke überschritten hat, lässt der Druck des Motors nicht nach. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 337 km/h (Basis: 334 km/h). Dank der ausgefeilten Aerodynamik und des langen Radstands liegt der SLR 722 dabei seelenruhig auf der Fahrbahn.

Von

Lars Zühlke