Die Wiedergeburt des Supersportwagens

Glauben Sie an Wiedergeburt? Wir eigentlich nicht, auch wenn es sicherlich reizvoll wäre, beim zweiten Anlauf als Lover von Cindy Crawford, als Michael Schumacher oder Bill Gates auf die Welt zu kommen. Im Fall McLaren F1 und Porsche Carrera GT könnte die Wiedergeburt passiert sein, rein theoretisch natürlich ... Zwar trennen die beiden Supersportler rund zehn Jahre voneinander, der "genetische Fingerabdruck" ist bei beiden aber verdächtig ähnlich.

Saugmotor statt Aufladung, jeder mehr als 600 PS Leistung, Hinterradantrieb, traditionelle Schaltung statt eines sequentiellen Getriebes, Trockensumpfschmierung, Kohlefaser-Monocoque, Magnesiumräder, ausfahrbarer Heckflügel – sogar ein passendes Leder-Gepäckset gibt es für beide. Reicht nicht für die These von der Reinkarnation? Wie wär's mit einem Blick ins Jahr 1998: Im gleichen Monat, in dem der letzte McLaren F1 mit Fahrzeugnummer 075 (Farbton "Yquem") die Fabrikationsstätte im englischen Woking verließ, fällt bei Porsche der Entschluß, nach dem legendären 959 wieder einen Supersportwagen zu bauen. Leicht, kompromißlos und schnell. Purer Zufall? Wer weiß ...

Grund genug für uns jedenfalls, die beiden "Brüder im Geiste" miteinander zu vergleichen. Hautnah, ungeschminkt. Nicht irgendwo, sondern auf (h)eiligem Boden – Nordschleife. Nürburgring. Die erste Begegnung mit dem McLaren erfolgt im historischen Fahrerlager. Es ist die respektvolle Annäherung an eine Legende, den "Godfather of Supercars". Ein James Brown des automobilen Souls. Faszinierend und überraschend klein. Fast einen halben Meter kürzer als der GT. Gebaut von 1993 bis 1998, Gesamtstückzahl: 64 Exemplare, Prototypen und Rennfahrzeuge nicht eingerechnet.

Exponat britischen Nationalstolzes

Die Entstehungsgeschichte ist schnell erzählt: Die Idee zum F1 kommt den TAG-McLaren-Bossen Ron Dennis, Mansour Ojjeh und Chefkonstrukteur Gordon Murray im Herbst 1988 in der Wartelounge des Mailänder Flughafens. Ihr Ziel: der ultimative Sportwagen. Oberste Priorität dabei: Leichtbau. Das benötigte Know-how ist für das erfolgsverwöhnte Formel-1-Team kein Problem: Chassis und Karosserie aus Kohlefaser, Titan-Schalldämpfer oder Doppelquerlenker aus Aluminium reduzieren das Gewicht auf ein Minimum.

Einzig die favorisierte – weil extrem leichte – Carbon-Bremse muß Murray zähneknirschend in den Wind schießen. Kalt und bei Nässe sind die Werte eine Katastrophe, also werden innenbelüftete Stahlscheiben eingebaut. Dafür fehlen aus Gewichtsgründen ABS und Servolenkung – "überflüssig", so Murray. Technisch und leistungsmäßig ist der F1 seiner Zeit um Jahre voraus. Ein Exponat britischen Nationalstolzes mit einem bayrischen Herzen von BMW – ein 6,1-Liter-V12 mit 627 PS. Das Herz schlägt heftig, nicht nur im McLaren, sondern auch beim ersten Öffnen der Fledermaustüren (abgeguckt vom hierzulande völlig unbekannten Toyota Sera).

Wie im Rennwagen kauert der Fahrer in der Fahrzeugmitte auf einem dünn bezogenen Carbon-Schalensitz, mit dem einzigen Unterschied, daß rechts und links statt Überrollkäfig und Feuerlöscher zwei Mulden für Passagiere warten. Den lässigen Schwung hinters puristische Nardi-Lenkrad kann man dabei getrost vergessen. Vier komplette Seiten widmet die Bedienungsanleitung dem idealen Ein- und Ausstiegsmanöver, doch die leicht vorgerückte, zentrale Sitzposition hat einen entscheidenden Vorteil: Sie sorgt dafür, daß der F1-Pilot sich stets im Zentrum der Ideallinie befindet – und direkt im Nacken die geballte Power des Mittelmotors spürt.

Tribut an Airbag, ABS und ESP

Ursprünglich war geplant, daß Rennsport-Partner Honda ein passendes Triebwerk beisteuert. Als die Japaner jedoch aus Zeitgründen absagten, entsinnt sich Murray seines alten Freundes und Motorengurus Paul Rosche von BMW, der einige Jahre zuvor mit ihm den Formel-1-Weltmeistertitel für Brabham und Piquet errungen hatte. Murray, beseelt von der Idee des Leichtbau-Supercars, stellt folgende Bedingungen: Saugmotor, zwölf Zylinder, 550 PS – maximal 250 Kilogramm schwer! Rosche schafft's.

Zwei Oktoberfestbesuche später absolviert der S70/2 den ersten Prüfstandslauf. "Zwar wog der fertige Motor etwas mehr als abgemacht", erinnert sich Paul Rosche schmunzelnd. "Aber dafür leistete er statt 550 auch 627 PS." Die Maschine ist gewaltig. Wie ein Urknall beschleunigt sie den 1140 Kilo leichten Hecktriebler. In unglaublichen 3,4 Sekunden durchschlägt der F1 aus dem Stand die 100-km/h-Barriere, die 200er-Marke wird nach 9,4 Sekunden passiert. Der Carrera GT – auch nicht gerade langsam – benötigt für die gleiche Übung 3,8 und 10,7 Sekunden.

Grund: Obwohl das V10-Aggregat mit 612 PS vergleichbar stark ist, muß der Porsche 350 Kilo mehr Masse in Bewegung setzen – macht ein Leistungsgewicht von 2,4 kg/PS (Carrera) zu 1,8 kg/PS (McLaren). Tribut an ABS, Airbags und Traktionskontrolle. Dabei kannten auch die Ingenieure aus Weissach vom ersten Tag an nur ein Ziel: Leichtbau. Porsches damaliger Projektleiter Michael Hölscher bringt es auf den Punkt: "Jedes Bauteil mußte mindestens zwei Funktionen erfüllen. Und überhaupt: Das beste Bauteil ist sowieso das, was es gar nicht gibt."

Wie ein Kampfpilot vorm Raketenabschuß

Wie beim F1 spielen deshalb auch beim Carrera GT High-Tech-Materialien wie Keramik und Carbon eine tragende Rolle. So besteht die Karosserie mitsamt Chassis und Aggregateträger aus kohlefaserverstärktem Kunststoff (CFK). Die Mittelkonsole ist aus superleichtem Magnesium. Wahre Leichtbau-Fetischisten können auf Klimaanlage und Navigationssystem verzichten, was von den bisher 1200 betuchten Kunden aber nicht mal ein Prozent tatsächlich gemacht haben. Eine Klimaanlage besitzt zwar auch der McLaren – bösen Gerüchten zufolge wurde die nur im Londoner Nebel getestet. Bei längerer Sonneneinstrahlung mutiert die gläserne Cockpit-Kanzel zum Ofen.

Porsche-Besitzer haben's da besser: Dach ab und in den Kofferraum – und spätestens bei Tempo 330 km/h ist ein Hitzeflash kein Thema mehr. Dafür gibt's was auf die Ohren. Von beiden. Jedoch in recht unterschiedlicher Tonart. Beim Carrera GT beginnt die Boxengasse gleich nach Drehen des Zündschlüssels (wo mittlerweile jeder Mittelklasse-Diesel per Starterknopf erwacht, eine wohltuende Besinnung aufs Wesentliche): Heiser, hektisch und bis zum Bersten gespannt, kann es der V10 kaum erwarten, losgelassen zu werden. Was mit der schlagartig zupackenden Keramikkupplung nur Könnern auf Anhieb gelingt.

Anfangs noch übertönt vom Gerassel der Getriebebox, legt sich der Zehnzylinder zwischen 5500 und 8000 Umdrehungen soundmäßig ins Zeug, als gelte es, das komplette Starterfeld der DTM zu übertönen. Der McLaren übt sich dagegen erstmal in britisch-bayrischem Understatement. Vor dem Start gilt es, den Sicherheitsdeckel des roten Starterknopfes hochzuklappen, wobei man sich ähnlich fühlt wie ein Kampfpilot vorm Raketenabschuß. Haben sich die 48 Ventile dank variabler Nockenwellenverstellung nach zwei, drei kurzen Gasstößen "eingestimmt", verblüfft der F1 zunächst mit zivilem Klang.

Technische Daten, Fahrleistungen, Preise

Ebenso erstaunlich gelingt das Anfahren: Kein Gas geben, Kupplung langsam kommen lassen, und schon rollt der F1 geschmeidig an – erst leise, bei Vollgas mit dem Donnern einer startenden Concorde. Nachteil der Carbon-Kupplung gegenüber den Keramikbelägen des Carrera: ihre Haltbarkeit. Durchschnittlich alle 5000 Kilometer braucht der F1 eine neue Kupplung (GT: 50.000 km). Kosten: 10.000 Euro. Bereits bei 1500 Touren liegt ein Drehmoment von 540 Newtonmetern an.

Vorausgesetzt man hat ein Highspeed-Oval im Garten, beschleunigt der McLaren von 50 bis 350 km/h in einem Gang. Der nie endende Tritt ins Kreuz läßt sich am besten mit Zahlenspielerei verdeutlichen: Von 200 bis 300 km/h sprintet der F1 in 9,5 Sekunden – so schnell wie ein Ferrari 575 Maranello von 100 auf 200 km/h. Bleibt die Frage: Welchen nehmen? Original oder Wiedergeburt? Am besten man macht es wie die meisten McLaren-Besitzer, man bestellt sich einfach einen Carrera GT dazu. Für alle Fälle ...

Technische Daten McLaren F1: V12-Mittelmotor, längs • je zwei obenliegende Nockenwellen, variable Steuerung • vier Ventile je Zylinder • Hubraum 6064 cm³ • Leistung 461 kW (627 PS) bei 7500/min • max. Drehmoment 651 Nm bei 5600/min • Hinterradantrieb • manuelles Sechsganggetriebe • rundum Einzelradaufhängung mit Doppelquerlenker/Alu-Dämpfern • rundum Vierkolbenbremsen mit Stahlscheiben • Reifen 235/45 und 315/45 ZR 17 • Räder 9 x17/11,5 x17 Zoll • Länge/Breite/Höhe 4287/1820/1140 mm • Radstand 2718 mm • Leergewicht 1140 kg • Tankinhalt 90 l • 0–100 km/h in 3,4 s • Höchstgeschwindigkeit 386 km/h • Preis (1994): 1,4 Millionen Mark

Technische Daten Porsche Carrera GT: V10-Mittelmotor, längs • sechsfach gelagerte Kurbelwelle • vier Ventile je Zylinder • Hubraum 5733 cm³ • Leistung 450 kW(612 PS) bei 8000/min • max. Drehmoment 590 Nm bei 5750/min • Hinterradantrieb • manuelles Sechsganggetriebe • rundum Einzelradaufhängung mit Doppelquerlenker/Pushrod • rundum Sechskolbenbremsen mit Keramikscheiben • Reifen 265/35 ZR 19 und 335/30 ZR 20 • 9,5 x19/12,5 x 20 Zoll • Länge/Breite/Höhe 4613/1921/1166 mm • Radstand 2730 mm • Leergewicht 1495 kg • Tankinhalt 92 l • 0–100 km/h in 3,8 s • Höchstgeschwindigkeit 330 km/h • Preis: 452.690 Euro

Von

Ingo Roersch