Mit all der Kraft, die in seinem 91 Jahre alten Bein noch steckt, steigt Herbert Kunisch auf das Bremspedal. Es ist nass, es ist rutschig, es geht bergab und in eine Linkskurve. Der Peugeot 206 kommt kurz hinter zwei weiß-roten Hütchen zum Stehen. Dann heult der Motor auf, der Wagen macht einen Satz nach vorn und geht aus. Kunisch, Rentner aus Kleinmachnow, blickt munter aus dem offenen Fahrerfenster und erklärt fröhlich: "Da hab’ ick mir jetzt aber verheddert."  Rainer Beyer streckt seinen Arm nach vorn, macht eine Faust und klappt den Daumen hoch. Beyer ist Instrukteur im ADAC-Fahrsicherheitszentrum in Linthe bei Potsdam und fällt heute milde Urteile. Es ist Aktionstag "Mobilität 60 plus", eine Art Schleuderkurs für Senioren, und da soll keiner, der freiwillig zum Übungsplatz gekommen ist, zu sehr getadelt werden. "Es haben schließlich auch schon Teilnehmer nach einem Kurs ihren Führerschein von sich aus abgegeben", sagt Beyer.

Immer weniger Unfälle – aber immer öfter mit Senioren


Doch das ist die Ausnahme. In der Regel halten sich die Älteren hinterm Steuer für sichere Fahrer. Die Unfallzahlen beweisen: Routinierte Autofahrer verursachen lange nicht so viele Unfälle wie die Fahranfänger, die bis zum Alter von 24 Jahren rund 20 Prozent aller Unfälle verantworten müssen. Doch der Trend zeigt: Die Unfallzahlen mit betagten Verkehrsteilnehmern nehmen kontinuierlich zu. Durch Wahrnehmungsprobleme und Mehrfacherkrankungen erhöht sich das Unfallrisiko schon ab 65 Jahren um das 2,6-fache. Immer mehr Verkehrsexperten und Mediziner verlangen regelmäßige Zwangstests für Senioren.

Sachsen-Anhalts CDU-Verkehrsminister Karl-Heinz Daehre (63) ist einer der wenigen Politiker, die sich mit der großen Wählergruppe der Senioren anlegen, indem er öffentlich einen regelmäßigen Fahrtauglichkeits-Check für ältere Autofahrer fordert. Marianne Steppan (83) findert solche Ideen "einfach nicht fair." Gerade hat sie ihre A-Klasse erfolgreich vor der plötzlich emporschießenden Wasserfontäne auf dem Übungsplatz zum Stehen bekommen. "Mit solchen Vorschlägen nehmen sie uns doch die Lust am Leben", sagt die Witwe aus Potsdam. Steppan, nach einer Herz-Operation im vergangenen Herbst jetzt wieder mit Freude am Lenkrad, hat eine für ihre Generation typische Einstellung: "Ich gebe meinen Führerschein ab, wenn ich merke, es geht nicht mehr. Ich will doch mich und andere nicht gefährden."

Beim Linksabbiegen "im Unfallbild auffällig"

Was so vernünftig klingt, ist in der Praxis nur schwer umzusetzen. "Viele Probleme kommen schleichend und werden oft nur schlecht bemerkt", erklärt der Dresdener Verkehrspsychologe Bernhard Schlag. Er meint vor allem die Fähigkeit, im Verkehr Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Echt stressig: Am Fahrsimulator testet Fritz Balke (82) seine Reaktionen.
Nach einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen haben Autofahrer ab 75 Jahren besondere Probleme mit der Vorfahrtsregel – gerade beim Linksabbiegen werden ältere Autofahrer "im Unfallbild auffällig", ermittelte die Studie. Der Grat zwischen Routine und Risiko ist so schmal wie die Hütchengasse auf dem Slalomkurs. Denn auch heute erlebt Rainer Beyer wieder, wie sehr sich Senioren am Steuer überschätzen. Er spricht die Anweisungen an seine Kursteilnehmer in sein Funkgerät, schaltet es dann aus und sagt: "Die Senioren haben langsamere Reaktionen, als sie glauben. Sie sind unbeweglicher und können oft schlecht hören oder sehen." Wie zum Beweis lässt Ulrich Gramsch (83) in der ADAC-Halle seine Sehstärke überprüfen. Auch mit Brille ermittelt die Optikerin eine Sehkraft von 30 Prozent – und schickt den ehemaligen Journalisten umgehend zum Augenarzt. Gramsch macht nicht den Eindruck, sich schnell einen Termin holen zu wollen.

"Sanfter Entzug" vom Hausarzt

Solche Reaktionen hält der Bonner Altersforscher Georg Rudinger für typisch und plädiert für einen "sanften Entzug": "Die Hausärzte sollen älteren Patienten klarmachen, ab wann sie nicht mehr fahrtüchtig sind." Auch der CDU-Verkehrsexperte Gero Storjohann (49) hält Hausärzte für Vertrauenspersonen mit Einfluss, die überzeugen können.
Gratulation vom Instrukteur: Diese Senioren haben das Fahrsicherheitstraining überstanden.
"Wenn es nicht mehr geht und der Hausarzt die Fahrtüchtigkeit verneint, sollte der Patient den Führerschein abgeben." Die Super-Senioren aus Rainer Beyers Gruppe – zwischen 82 und 91 Jahre alt – schütteln darüber nur ihre grauen Häupter. Über 500 Teilnehmer sind zum Aktionstag gekommen, 200 wurden erwartet. Sie lernen, ABS einzusetzen und was ESP eigentlich kann. Es sind Menschen wie Günther Weber (85): Er hat den Führerschein 1938 gemacht, 2007 fährt er in seinem 3er-BMW zweimal nach Südfrankreich. Ihm reicht das als Beweis seiner Fahrtauglichkeit. Ein 78-Jähriger aus Fellbach bei Stuttgart musste dafür mehr kämpfen. Sein Nachbar hatte ihn angezeigt – wegen "haarsträubenden Fahrverhaltens". Der Senior ging zum Amtsarzt. Nach 90 Minuten hatte er es dann schriftlich: für das Autofahren geeignet.

Kommentar von AUTO BILD-Redakteur Hauke Schrieber (37)

Es gibt viele Möglichkeiten, sich unbeliebt zu machen. Eine der sichersten: öffentlich verpflichtende Fahreignungstests für Senioren zu fordern. Dabei wären diese Tests sinnvoll. Nicht, weil jeder Rentner ein Verkehrsrisiko ist, sondern weil es in der Natur des Menschen liegt, Unangenehmes zu verdrängen. Im Verkehr überfordert? Ich doch noch nicht! Oft bringt erst eine Schrecksekunde die Einsicht. Manchmal ist es dann schon zu spät. Freiwillige Schulungen können funktionieren, wie der ADAC-Aktionstag gezeigt hat. Pflicht-Tests zum Beispiel ab 75 Jahren – aber bedeuten mehr Sicherheit, keine Diskriminierung. Auch ich werde hoffentlich mal ein guter, 75 Jahre alter Autofahrer sein. Ich freue mich schon, es bei der Prüfung allen zu beweisen.