Auf ein paar Dinge kann man sich im Rennsport verlassen. Eines davon ist der Zusammenhang zwischen der Motorleistung und der Kraft, die man benötigt, um die Kupplung zu treten. Schließlich sollte sie nicht schon nach dem ersten Startversuch in Rauch aufgehen. Ab etwa 400 PS ist also ein Unterschenkel im Elefantenformat hilfreich. Welche Kraft erfordert also die Kupplung des SLR 722 GT, dessen Achtzylinder-Triebwerk gewaltige 680 PS produziert? Exakt null. Zero. Nada. Der Renner, der Stirling Moss' legendäre Startnummer vom Mille-Miglia-Sieg 1955 im Namen trägt, verwöhnt seinen Piloten mit einem Automatikgetriebe. Und so beginnt die erste Ausfahrt aus der Boxengasse der Formel-1-Teststrecke von Le Castellet im Süden Frankreichs mit einem eher ungewohnten Handgriff.
Der Automatik-Schalthebel will aus der Position "P" wie Parken in die Ebene "D" wie Drive geführt werden. Geschaltet wird danach mit zwei Wippen am Lenkrad. Einmal rechts ziehen bedeutet Hochschalten. Das linke Paddel ist für Gangwechsel nach unten zuständig. "Die Getriebesteuerung hat eine neue Software ohne Vollautomatik", erläutert Paul Field. Der Brite ist bei Ray Mallock Limited (RML) für die Verwandlung des normalen $(LA389318:Mercedes-Benz SLR McLaren 722)$ in die GT-Variante verantwortlich. Dabei verkürzten Elektroniker die automatischen Schaltzeiten von 0,3 auf 0,2 Sekunden. Dennoch sind es gerade diese Gangwechsel, die mich im Laufe der ersten Runden richtig ins Schwitzen bringen. 0,2 Sekunden Schaltverzögerungen bedeuten in der Praxis, dass sich Fahrer und Fahrzeug leicht asynchron durch Raum und Zeit bewegen.

Und plötzlich ist das Heck weg

Mercedes SLR McLaren 772 GT
Der SLR ist Power pur, aber 680 Pferdestärken wollen erst einmal gebändigt sein.
Jedenfalls schaltet das Getriebe vom dritten in den zweiten Gang nicht beim Anbremsen auf die Kurve am Eingang der Start-Ziel-Geraden, sondern genau in dem Moment, in dem ich bereits eingelenkt habe. Der kurze Ruck an der Hinterachse erwischt mich auf dem falschen Fuß. Das Heck bricht mit Vehemenz aus. Die dank Mittelmotor hohe Drehfreudigkeit, der rennwagentypisch geringe Lenkeinschlag und das Fehlen der in solchen Momenten ganz nützlichen Kupplung tun ein Übriges. Der SLR steht plötzlich entgegen meiner Fahrrichtung. Gut, dass hier und heute kein Rennen ist. Genau dafür wird das Flügelmonster nämlich gebaut. Für den exklusivsten Markenpokal der Welt. Bis zu 14 gut betuchte Gentleman-Driver werden sich hier mit vier Gastfahrern aus dem Profilager messen.

Der DTM-Champ ist beeindruckt

Einer von ihnen ist Klaus Ludwig (58). "Am meisten beeindruckt mich die Motorleistung", sagt der dreimalige Deutsche Tourenwagen-Meister (1988, 92 und 94). Der kompressoraufgeladene V8-Motor (680 PS), verhält sich genauso, wie es der infernalische Sound aus den armdicken Sidepipes vermuten lässt. Ein mechanisch angetriebenes Gebläse verhindert jedes Leistungsloch. Und so wuchtet das 5,5-Liter-Triebwerk schon bei bescheidenen 4000 Touren das völlig unbescheidene Drehmoment von 830 Newtonmeter auf die Kurbelwelle. Eine Traktionskontrolle hilft, diese Kraft kontrolliert auf den Boden zu bringen. So muss Formel 1 fahren vor dem Verbot von elektronischen Fahrhilfen gewesen sein. Am Kurvenausgang das rechte Pedal kompromisslos aufs Bodenblech drücken, den Rest erledigt Copilot Computer. Nicht, dass der 722 GT deswegen einfach zu fahren wäre. Das Gewicht von etwa 1,5 Tonnen – inklusive Fahrer und Benzin – macht sich vor allem beim Bremsen und Einlenken bemerkbar. Leichtfüßig ist anders. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig ist die wegen der tiefen Sitzposition eingeschränkte Sicht. Wo die ewig lange Motorhaube endet, kann man nur ahnen. Erleichtert wird meine Arbeit im Cockpit von einer Klimaanlage. Die ist zwar auf die Betriebszustände Ein und Aus abgespeckt, aber vorhanden. Ebenso wie Servolenkung und Bremskraftverstärker.

Für den Racer bleibt ein wenig Luxus

Mercedes SLR McLaren 772 Coupé
Den Mercedes SLR McLaren 772 GT bekommen nur 14 gut betuchte Gentleman-Driver. Das Coupé ist immerhin für 3500 Kunden vorgesehen.
Obwohl im Vergleich zur Straßenversion rund 400 Kilogramm elektronische Helfer und Komfortzubehör rausflogen – ohne ein wenig Luxus ist auch die Rennversion des SLR nicht vorstellbar. Zusätzlich bietet der Edel-Renner für Hobbypiloten erstaunlich viele Möglichkeiten zur Abstimmung: z. B. dreifach verstellbare Stoßdämpfer, wechselbare Fahrwerksfedern, verschiedene Anstellwinkel für den Heckflügel und selbst zwei Varianten für das Hinterachsdifferenzial. Zudem werden wichtigen Fahrzeugdaten wie Gaspedalstellung, Bremsdruck, Lenkwinkel oder Geschwindigkeit aufgezeichnet und können am Computer analysiert werden. Deswegen erhält auch jeder Fahrer seinen eigenen Renningenieur für die ganze Saison zur Zusammenarbeit. "Wir wollen unseren Kunden eben so viel Profigefühl wie möglich vermitteln", erläutert Projektmanager Field den ungewöhnlichen Aufwand.
Fazit: Abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Semi-Automatik ist dieser SLR ein Dampfhammer. Für einen Gentleman-Racer sind die Verstellmöglichkeiten an Fahrwerkund Aerodynamik fast zu komplex. Schade, dass ein Einsatz im offiziellen GT-Rennsport kein Thema ist.

Von

Christian Schön