Andere Zeiten, andere Diesel: 1961, als die Heckflosse zu rauchen begann, gab es Diesel-Fanatiker und Diesel-Verächter. Und so gut wie nichts dazwischen. Mit seiner "geruhsamen Solidität", schrieb damals der renommierte Autotester Reinhard Seiffert über den Mercedes 190 D, "ist er vielleicht der deutscheste aller deutschen Personenwagen." Der Wagen brauche freilich "Fahrer, die seinem Charakter entsprechen". Die saßen zumeist auch drin – besonders Landwirte fuhren auf den Nagel-Benz ab. Und böse Zungen tauften den 190 D in 190 H um, weil nicht selten steuerfreies Heizöl im Tank schwappte. Immerhin: Er war der schnellste Diesel der Welt, jawohl. Und der komfortableste, denn abgesehen vom 15 Zentimeter kürzeren Bug mit dem Selbstzünder darin entsprach er weitgehend der großen 220er-Heckflosse.

Dieselfahren musste erst noch gelernt werden

Mercedes 200 D W 110
Viel Platz also, mächtige Sofasitze, ein Riesen-Kofferraum und die arttypische Marsh-Mellow-Federung. Da lässt es sich aushalten, am besten mit einer guten Zigarre, passend zum bürgerlichen Sechzigerjahre-Ambiente. Der Tacho erinnert an ein Fieberthermometer, einer der seltenen Ergonomie-Fehlgriffe von Mercedes. Lenkradschaltung, links ein Zugschalter zum Vorglühen, Anlassen und Abstellen, dazu der "Glühüberwacher" und ein Drehknopf, um die Leerlaufdrehzahl zu erhöhen. Dieselfahren musste damals noch gelernt werden, auch dass der Tank niemals leer gefahren wird. Denn das bedeutet eine Entlüftung des Kraftstoffsystems. Beim Anlassen schüttelt sich der Zweiliter erst einmal kräftig, 55 PS und 113 Nm Drehmoment stehen nun auf Abruf. Aber das Schiff wiegt – schwer zu glauben – kaum mehr als ein moderner VW Golf: 1335 Kilo.

Der 200 D war deutlich schneller als ein VW Käfer

Mercedes 200 D W 110
Folglich wandert die "Wanderdüne" (Volksmund) gar nicht mal so langsam. Messwerte attestieren ihr 28,2 Sekunden für den Spurt auf Tempo 100 und 133 km/h Spitze – ein VW Käfer war damals deutlich langsamer. Es sei denn, der Dieselfahrer gönnte sich die beruhigende Wirkung der Automatik. So aber gestaltet sich die Reise im Ur-Diesel keineswegs unerträglich zäh. Bei Betriebstemperatur nagelt und vibriert er nur noch dezent, Bremsen, Schaltung und Lenkung sind problemlos zu managen, nur der Blick in den Rückspiegel ist nicht immer von Erfolg gekrönt, denn mitunter behindert schwarzer Rauch die Sicht nach hinten. 1965 wertete Mercedes den 190 D zum 200 D auf, was nur an der Ausstattung und an der Zahl der Kurbelwellenlager etwas änderte, nichts aber an der Leistung. Insgesamt verließen 387.263 Diesel-Flossen das Werk. In aller Ruhe. Mit 55 PS.

Plus/Minus

Alte Liebe kann leider auch rosten, und für die Heckflosse gilt das ganz besonders. Der Hang zur Korrosion ist zweifellos ihr größter Nachteil. Ansonsten überwiegt freilich das Vergnügen, sei es auch von der gemütlichen Sorte. Bequemes Reisen, mit besinnlichem Tempo des Weges ziehen, bei Bedarf mit Kind und Kegel an Bord, das ist der Reiz eines 190 D oder 200 D. Schön auch die solide Machart und gut zu wissen, dass bei der Konstruktion bereits auf passive Sicherheit Wert gelegt wurde. Wird sie gepflegt, hält so eine Diesel-Heckflosse ewig. Und bei neun bis zehn Liter Verbrauch, 192 Euro Steuer und einer günstigen Oldtimerversicherung lacht auch der Geldbeutel.

Ersatzteile

An den Ersatzteilen sollte das Glück mit einer Heckflosse nicht scheitern. Wie bei Mercedes üblich, ist fast alles lieferbar, auch wenn vieles davon heftig ins Geld geht. Schwierigkeiten könnte es nur bei einigen Zierteilen und Ausstattungskombinationen geben. Ansonsten genügt einfach nur der Gang zur Mercedes-Vertretung. Sollte hingegen der Diesel, insbesondere dessen Einspritzung, eine Revision benötigen, helfen diverse Spezialisten.

Marktlage

Eine gute Diesel-Heckflosse zu finden, erfordert langes Suchen. Denn 190 D und 200 D führten in der Regel ein strapaziöses Dasein, häufig gedroschen und selten gepflegt. Gegen eine aufwendige Restaurierung spricht der geringe Marktwert, sodass oft billig zurechtgeflickte Blender angeboten werden. Ist sie gesund, die Flosse, dann muss mit mindestens 6000 Euro gerechnet werden. 200.000 und mehr Kilometer sind dabei der Normalfall. Dieselflossen mit weniger Laufleistung sind quasi nicht mehr existent.

Empfehlung

Lassen Sie sich nicht von satt schließenden Türen und sauberen Polstern täuschen: Das bieten auch Heckflossen, die in Wahrheit reif für die Abwrackprämie sind. Das Unheil (sprich: der Rost) droht selbst hinter intakten Radläufen, Reserveradmulden, Endspitzen und Schwellern. Die Flosse trägt ihre Wunden im Verborgenen, deshalb sollte beim Kauf ein Fachmann mit möglichst endoskopischem Diagnosegerät hinzugezogen werden.

Historie

1961: Der Mercedes 190 D (W 110) als verkürzte Variante der Sechszylindermodelle (W 111) ersetzt den Ponton-Mercedes 190 D (W 121), wahlweise auch mit Servolenkung und Automatik.
1965: Aufwertung zum 200 D, gleiche Karosserie, aber mit Entlüftungsschlitzen an der C-Säule, Blinkern unter den Scheinwerfern und rechteckigen Rückleuchten, fünffach gelagertem Motor und vergrößertem Tank (von 51 auf 65 Liter).
1968: Produktionsende nach 387.263 190 Dc und 200 D, Vorstellung des Nachfolgers Mercedes/8 (W 115).

Weitere Klassiker für Knauserer:

BMW 525e

Porsche 924

Fiat 500 D

$(LB548714:VW Golf I)$

Citroën 2 CV 6

$(LB548673:Opel Kadett B 1100)$

VW 1200 A

Audi 100 LS

Von

Wolfgang König