Italiens Natur hat ihr weißes Kleid angelegt, um den Disco Volante zu begrüßen. Das ist der südländisch-diplomatische Ausdruck für eine böse Enttäuschung am frühen Morgen: Es schneit am Comer See. Dicke weiße Flocken, ausgerechnet an dem Tag, als die Karosserieschmiede Touring Superleggera, exklusiv für AUTO BILD, erstmals ihren Disco Volante herausfährt. Die Straßenversion jenes Showcars, das vor einem Jahr auf dem Genfer Salon die Alfisti mitten ins Herz traf, weil sie erkannten: So könnte es aussehen, ihr Wunsch-Coupé mit dem Geist von gestern und der Attraktivität für morgen.

Premiere in Genf 2012: Touring Superleggera Disco Volante

Alfa Romeo Disco Volante
Moderne Interpretation: Der Disco Volante bezieht sich auf den gleichnamigen Alfa-Rennwagen von 1952.
Nun steht ihr Traum am Seeufer vor der Villa Erba, wo früher Filmregisseur Luchino Visconti residierte, bollert im Leerlauf aus den senkrechten Endrohren und schüttelt sich ein paar Schneeflocken vom Lack. Der Disco ist wahr geworden. In Alu gekleidet, satte 450 PS stark und scheinbar keinen Deut anders als das Showcar von 2012. Hat sich wirklich nichts verändert? "Doch, eine Menge", erzählt Designer Louis de Fabribeckers. "Die Haube ist höher, damit der V8 darunter passt, deshalb musste ich alle Linien leicht ändern. Die Kunst besteht darin, dass man’s nicht sieht, aber das Serienauto ist länger und höher." Was heißt das in Millimetern? "Ach, ich arbeite nicht mit Zahlen, das sollen die Controller tun. Ich arbeite mit meinem Gefühl." Glückspilz, aber Geschick fehlt ihm auch nicht gerade. Sein Auto atmet an den richtigen Stellen den Geist eines berühmten Vorbilds: Alfa Romeo hatte 1952 einen Rennwagen gebaut, der wegen seiner windschlüpfigen Form bald "Fliegende Untertasse" genannt wurde. Oder Italienisch: Disco Volante. Ein Geschöpf der alten Carrozzeria Touring, die bis 1967 einige bildschöne Ferrari, Aston Martin und Lamborghini in ihre leichten Alukarossen kleidete, immer nach der Maxime von Firmengründer Felice Bianchi Anderloni: "Gewicht ist der Feind, Luftwiderstand das Hindernis."

Überblick: Alle News und Tests zu Alfa Romeo

Alfa Romeo Disco Volante
Hübsches Blechkleid: Designer Louis de Fabribeckers zeichnet für den Disco Volante verantwortlich.
Aerodynamik und Leichtbau also, beides sehr aktuelle Werte. Weil der glamouröse Disco selbst aus der – an Highlights nicht gerade armen – Alfa-Historie herausragt, wagt die neue, seit 2006 aktive "Carrozzeria Touring Superleggera" eine Neuauflage. Keinen nostalgischen Abklatsch, sondern eine "Untertasse in Neo-Retro", meint Fabribeckers. Wieder streckt ein umlaufendes Aluprofil die Front, die prallen Kotflügel quellen wie früher, und die Vorderräder sind teilweise abgedeckt, als würde das Blech einen Schlafzimmerblick aufsetzen. Ein fesselnder Hingucker. Der 35-Jährige, der nach seinem Studium ein halbes Jahr bei BMW arbeitete und dort abgelehnt wurde, liefert mit dem Disco ein kleines Meisterwerk. "Als Zuschauer soll man die Touring-Handschrift erkennen – zeitlos und elegant." Der Belgier zeigt den Mut zu glatten, ruhigen Flächen, lagert darin spannende Blechschnitte und riskiert schließlich ein dramatisch ansteigendes Ende, irgendwo zwischen italienischer Oper und dem schmalen hohen Heck des ersten Jaguar E-Type. Der Neo-Disco weckt den Will-haben-Reflex. Ein hinreißendes Lockmittel für Luxuskunden, die exklusive Handarbeit sammeln und nicht aufs Geld gucken.
Zugleich soll das gute Stück eine exzellente Visitenkarte abliefern für die Karosserieschmiede, die zum vierten Mal in Folge in Genf ausstellt. "Carrozzeria Touring gehört zu den wenigen Herstellern weltweit, die vom Design bis zum fertigen Fahrzeug alles aus einer Hand anbieten können", betont Piero Mancardi. Der Firmenchef vereint fast teutonische Pünktlichkeit mit unfassbarer italienischer Großzügigkeit. Der Disco in "Flame Red", den er uns zur ersten Fahrt übergibt, ist das einzige Exemplar – und somit das teure, unverzichtbare Ausstellungsstück für Genf. Der geschätzte Signore kennt wohl nicht den übereifrigen Kontrollwahn bei anderen Marken, wenn's um ihre Unikate geht. Was, wenn jetzt was kaputtginge? Ich habe wenig Lust, als Disco-Ripper in die Alfa-Historie einzugehen. So viel Angst zügelt den Gasfuß.
Alfa Romeo Disco Volante
Ordentlich Dampf unter der Haube: Der V8 mit 450 PS stammt komplett aus dem Plattformspender Alfa 8C.
Doch die Untertasse läuft völlig zickenfrei. Vorn röhrt der 4,7-Liter, hinten klickt das Transaxle-Getriebe. Unter der Aluhaut steckt die komplette Technik eines Alfa 8C, des auf 500 Stück limitierten Sportcoupés, das bis 2009 mit einem Ferrari-Motor gebaut wurde. Diesen 160.000 Euro teuren Traumwagen muss ein potenzieller Kunde bei Touring anliefern, damit die Karosseriebauer ihn – jetzt bitte tapfer sein – aufschneiden! Jawohl, in den Werkstätten bei Terrazzano, einen Steinwurf entfernt vom alten Alfa-Werk Arese, trennen sie die teure Kohlefaserhülle des 8C ab, um die Touring-Spezialität zu montieren: eine Aluhaut über einem Stahlrahmen, während 4000 Stunden in Handarbeit gefertigt und garantiert keine Serienware. "Wir bauen höchstens ein Dutzend Disco", betont Firmenchef Mancardi. "Unsere Kunden schätzen diese Exklusivität." Im zweiten Geschäftszweig restaurieren die Blechkünstler von Terrazzano seltene Oldtimer, die hinter Tüchern verborgen stehen. "Bitte keine Fotos!" Die Kunden schätzen Diskretion mindestens so sehr wie geringe Stückzahlen. Auch den Preis für den Disco Volante möchte Piero Mancardi lieber im Dunkeln belassen: "Sagen wir so: Er ist noch zu kaufen." Als wir die Villa Erba verlassen, hat es aufgehört zu schneien. Die Sonne kommt hervor.
Technische Daten Alfa Romeo Disco Volante: V8, vorn längs • vier Ventile pro Zylinder • Hubraum 4691 cm³ • Leistung 335 kW (450 PS) bei 7000/min • max. Drehmoment 470 Nm bei 4750/min • Hinterradantrieb • sequenzielles Sechsganggetriebe (Transaxle) • Reifen 265/35 ZR 20 vo., 285/35 ZR 20 hi. • L/B/H 4613/2020/1335 mm • Kofferraum 200 l • Tank 88 l • Spitze 292 km/h • 0–100 km/h 4,2 s.

Fazit

von

Joachim Staat
Ein hinreißendes Gesamtkunstwerk, der neue Disco Volante: ein Auto mit glamouröser Historie. Wiederbelebt unter dem klingenden Namen Touring, von Könnern mit Geschmack und Geschick gestaltet. Preis? Stückzahl? Erst mal egal. Was hier gelingt, taugt als Vorbild für Italiens Autobau. Und in dessen Geschichte schlummern noch viele ungenutzte Schätze.

Von

Joachim Staat