Prokuristen-Mercedes - was mag den Volksmund damals wohl zu diesem seltsamen Kosenamen bewogen haben? Es war die Mixtur der Eigenschaften, die der erste Audi 100 mitbrachte: Daimler-Dimensionen, biedere Vernunft, konkurrenzloser Preis. Die Kundschaft, die sich von dieser Komposition hinreißen ließ, tat ihr Übriges. Bei vielen reichte es halt nicht zum Benz. Sogar als Youngtimer präsentiert sich der Audi 100 derart undramatisch, dass er glatt übersehen werden könnte. Wäre da nicht seine Entstehungsgeschichte, einer der spannendsten Krimis der Automobil-Historie. 1958 übernimmt Daimler-Benz die Aktienhoheit über die Auto Union und deren einzig verbliebene Marke DKW.
Doch das Zweitakt-Prinzip hat ausgestunken. Daran ändert auch der F 102 von 1963 nichts. Zwei Jahre später kauft Volkswagen die maroden vier Ringe. Künftig sollen in Ingolstadt nur noch Käfer vom Band krabbeln. So jedenfalls will es Heinrich Nordhoff, der Wolfsburger Übervater und glühende Verfechter des Heckmotors. Zwar wird zunächst der F 102 zum Viertakt-Audi. Doch die Tage des Bastards sind gezählt. Zumal das wassergekühlte Triebwerk nicht den Geschmack des VW-Herrschers trifft. "Mitteldruck-Motor" nennen die Werbetexter das Herz mit der hohen Verdichtung, deren Niveau zwischen Benzinern und Dieselmotoren liegt. Eine Mercedes-Mitgift, ursprünglich für den Bundeswehr-DKW Munga entwickelt.

Mercedes-Herausforderer

Nordhoff untersagt dem Audi-Chef Rudolf Leiding, neue Modelle zu entwickeln. Doch Technik-Leiter Ludwig Kraus bastelt mit einer verschworenen Mannschaft im Verborgenen an der Zukunft.Der Leichtbau-Pionier und Konstrukteur der legendären Mercedes-Silberpfeile erschafft in wenigen Wochen den "großen Audi" auf dem Reißbrett. Designer? Kein Geld. Kraus macht alles selbst. Als Leiding das 1:1-Modell sieht, ist er außer sich. Und doch begeistert. Aber was wird Nordhoff sagen? "Ein schönes Auto. Ein sehr schönes Auto", ist dessen Kommentar überliefert. Nur noch Formsache, die Fertigung zu besiegeln.
In wenigen Monaten entsteht das Serienmodell. Kraus speckt jedes Einzelteil am Computer ab - erstmalig in Deutschland. Heraus kommt ein Lebendgewicht von gerade einmal 1040 Kilogramm. So viel wie heute ein komplett ausgestatteter Polo. Und trotzdem ein veritabler Mercedes-Herausforderer. Das Pikante daran: Ende der Sechziger wird Audi, ein Relikt aus DKW-Tagen, noch von vielen Benz-Händlern vertreten. Deren Argumente für den 100: kurze Lieferfristen und kleine Preise. 11.600 Mark kostet der 200er-Daimler 1968, der 100-PS-Audi dagegen nur 9600 Mark. Und flinker ist der neue Rivale auch: null bis 100 km/h in zwölf Sekunden. Der Benz braucht glatte 16. Nach kurzer Zeit liegen die Wartezeiten auf ähnlichem Niveau.

Historie und Daten

Modellgeschichte Der erste Audi 100 erscheint im November 1968 mit wahlweise 80, 90 oder 100 PS. Sein 1760-cm3-Reihenvierzylinder stammt aus dem Audi Super 90. Mit einem Basispreis von nur 8900 Mark (80 PS) ist der erste deutsche Fronttriebler der oberen Mittelklasse eine klare Kampfansage an die etablierte Konkurrenz. 1969 debütieren der Zweitürer und das Coupé (1,9 Liter, 115 PS), dessen Fertigung jedoch noch ein Jahr auf sich warten lässt. Gleichzeitig wird ein Cabriolet verworfen. Zum Modelljahr 1972 steht der Audi 100 als 85-PS-Normalbenziner, als LS mit 100 PS sowie als GL (Doppelscheinwerfer, Coupé-Motor auf 112 PS gedrosselt) am Start. Zwei Jahre darauf wird die Frontpartie nach dem Muster des neuen Audi 80 begradigt, den Drehstab an der Hinterachse ersetzen jetzt zwei Schraubenfedern. Im Oktober 1974 wandern die bisher am Getriebe liegenden Scheibenbremsen nach außen, weil sie häufig zum Verölen neigen und schwer zu warten sind. Zeitgleich erscheint der 1,6-Liter-85-PS aus dem Audi 80, VW Passat und Scirocco als Einstiegsmotorisierung. Die Produktionseinstellung erfolgt im August 1976. Nachfolger wird der intern als C2 bezeichnete Audi 100, der kurz darauf auch als Fünftürer (Avant) und Fünfzylinder zu haben ist.