Ein neuer Klassenprimus?

Der Mann redet kein Blech. Obwohl er genau davon am meisten versteht. Wenn Ernst Günther (47) bei einer Tasse Kaffee aus dem Nähkästchen plaudert, lohnt es sich, genau zuzuhören. Günther ist Herr über einen Fuhrpark mit 419 Dienstwagen und kennt seine Pappenheimer genau. "In puncto Zuverlässigkeit hat Audi jetzt die Nase vorn", weiß der Profi zu berichten. Hoppla! Und was er dann erzählt, ist purer Zündstoff: "Fünfer und E-Klassen schicken wir doppelt so oft außerplanmäßig in die Werkstatt wie unsere A6."

Moment mal, ausgerechnet der Hersteller, der einst als Prokuristen-Mercedes mit Hut und Hosenträger auf die Welt kam, soll jetzt Primus unter den Premiummarken sein? Wo steht der Emporkömmling heute wirklich? Antworten sollte ein Dauertest mit dem A6 Avant 2.8 Multitronic liefern. Und tat es auch. Doch das, was wir buchstäblich erfuhren, können leider nicht alle A6-Kunden nachvollziehen. Aber der Reihe nach.

Zu Beginn unseres Marathons über 100.000 Kilometer liest sich das grüne Fahrtenbuch, als stünde darauf: „Poesiealbum“. Gestandene Tester werden ergriffen und schwärmen in höchsten Tönen von "exzellenter Verarbeitung" oder loben die "Perfektion im Detail", wie etwa die mit Teppich verkleideten Türablagen. Sitze verwandeln sich plötzlich zu "bequemen Sesseln", und sie bleiben es auch – dank guter Langzeitqualität. Kommentare über die "tollen Reisequalitäten" füllen ganze Seiten. Ja, ist denn dieser A6 tatsächlich vom anderen Stern? Klare Antwort: Jein.

Luxus nicht ganz ohne Leiden

Erstens sprechen wir hier von einem Auto, das mit 23 edlen Zutaten aus der Extra-Liste mal eben 106.722 Mark gekostet hat – und wer sich in so einem Luxus-Leder-Edel- Schlitten nicht wohl fühlt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Zweitens scheinen wir ein wirklich gutes Exemplar erwischt zu haben. Denn außer dem ständigen Ärger mit den Bremsen (später mehr darüber) lief der hübsche Avant anstandslos bis zum Testende. Andere Audi-Fahrer, aber auch Kollegen anderer Fachmagazine haben da schlechtere Langzeit-Erfahrungen gemacht.

So wissen wir zum Beispiel aus unserem Kummerkasten, dass viele Käufer enttäuscht von der Verarbeitung sind. Sie klagen über knarzende Cockpits, häufige Probleme mit der Elektrik, hohe Windgeräusche, aber auch über den Service, der keineswegs zu Audis Premiumanspruch passe. Zweifellos muss Audi aufpassen, das zarte Pflänzchen Vertrauen nicht leichtfertig zu zerstören. Denn im A6 sitzen nicht nur junge Aufsteiger (durchschnittlich 44,3 Jahre, die jüngsten Kunden im Premiumsegment), sondern auch viele Umsteiger von BMW und Mercedes. Mit einer Eroberungsrate von 47 Prozent liegt der A6 Avant deutlich über der Konkurrenz.

Wollen die Ingolstädter diese Kunden an sich binden, müssen sie die Serienstreuung in den Griff bekommen. Einige Schwachstellen haben sie bereits erkannt und im Rahmen der Modellpflege abgestellt. Der Federungskomfort beispielsweise konnte zwar befriedigen, erreicht aber nicht das hohe Niveau von Fünfer-BMW oder gar der neuen E-Klasse. Die Vorderachse stuckert bei Querfugen heftig, bei hoher Beladung schwingt das Heck wegen zu schwacher Dämpfung kräftig nach. Beides wurde durch straffere Dämpfer spürbar verbessert, ist aber noch nicht optimal. Hier dürfte wohl auch erst der Nachfolger mit der Mehrlenker-Hinterachse des A4 die Erwartungen an ein Oberklasse-Fahrzeug erfüllen.

multitronic hui, Bremsen pfui

Gewirkt hat auch die ständige Kritik an den nässeempfindlichen vorderen Bremsen. Als mehrere A6-Fahrer nach Unfällen Piëchs Vorzeigefirma verklagt hatten, rüstete Audi (auch auf unseren Druck hin) neue Bremsbeläge und so genannte Radspoiler nach. Daher gab es bei unserem Testwagen auch keinen Ärger. Dennoch fielen die Bremsen negativ auf: Bereits bei Kilometerstand 32.141 mussten Bremsscheiben und -klötze vorn gewechselt werden, 60.000 Kilometer später erneut. Grund jeweils: tiefe Riefen. Steine fanden ihren Weg anscheinend leichter in die Bremsanlage als wieder heraus. Dies soll mittlerweile behoben sein, zudem optimierten die Techniker das Pedalgefühl.

Wenn wir schon von Gefühl reden, darf die multitronic unseres A6 natürlich nicht fehlen. Ja, genau die aus der Wackel-Elvis-Werbung. Diese stufenlose Automatik ist wirklich der Hit. Oder, wie es Wolfgang Peters in der FAZ treffend formulierte: "Es ist eines von zwei besten Systemen, die es zurzeit zum Wechsel der Gänge gibt. Das andere System sind wir selbst."

Dank ausgeklügelter Hydraulik und elektronischer Steuerung sorgt das Wunderding für einen bisher nicht gekannten Fahrkomfort. Ohne Schaltruck, ohne Motorheulen – für jede Verkehrssituation hat die multitronic die passende Übersetzung parat. Beim ruhigen Dahinrollen sinkt die Drehzahl bis auf 1200 Umdrehungen, entsprechend leise fuhr unser A6. Beim Beschleunigen verlangt das Getriebe dem Motor jeweils nur so viel Drehzahl ab wie unbedingt nötig. Serpentinen werden zur Freude, auf Schnee besteht die multitronic jeden Anfahrtest. Und zwar klaglos und verschleißfrei über 100.000 Kilometer. Kein Zweifel: Der multitronic gehört die Zukunft. Bei einigen Motorvarianten (z. B. 2.5 TDI, 155 PS) entscheiden sich schon über 60 Prozent der Audi-Kunden für das intelligente Getriebe. Im Alltag ist es seinen hohen Preis (2100 Euro) wert.

Schwacher Motor, starker Eindruck

Im Gegensatz zur multitronic hat der Motor unseres Dauergastes seine Zukunft schon hinter sich. Der 193 PS starke 2,8- Liter-V6 wurde mittlerweile durch einen Dreiliter mit 220 PS ersetzt. Was Sinn macht. Im Dauerlauf zeigte sich der Sechszylinder zwar ausreichend leise und kräftig genug beim Anfahren, hohe Drehzahlen jedoch lagen ihm gar nicht. Ausgerechnet dort, wo die Fünfventiltechnik ein paar Extra-PS herauskitzeln sollte, wirkte der Sechszylinder zugeschnürt, saft und kraftlos. Die angegebene Spitze von 228 km/h wurde – wenn überhaupt – erst nach langem Anlauf erreicht.

"Zuerst wirkt er kräftig, aber obenherum wirkt er wie zugeschnürt. Du kommst kaum an den TDI vorbei" notierte ein enttäuschter Kollege im Bordbuch. Das alles kann der Dreiliter jetzt besser – und bald wohl auch sparsamer. Bis 2005 sollen alle Benziner auf Direkteinspritzung umgestellt werden, dann fährt schon der nächste A6 auf unseren Straßen. Fazit des Dauertests: Audi ist oben angekommen, vor allem mit seinem Gentleman-Getriebe. Aber die Kunst ist es, sich in allen Baureihen dauerhaft auf diesem hohen Niveau zu halten. Wie schwer das ist, erleben wir gerade bei Mercedes.

Technische Daten und Wertung

Der A6 Avant zählt nicht umsonst zu den beliebtesten Familien- und Dienstwagen für Besserverdienende. Zurückhaltender Auftritt, edles Ambiente sowie fortschrittliche Technik prägen seinen Charakter. Mit einem TDI stimmt auch die Energiebilanz, andererseits stehen mit V8, S6 und allroad interessante, leistungsstarke Varianten zur Auswahl. In der Zuverlässigkeit hätte der Dauertestwagen sogar ein "Gut" erhalten, wären nicht die durch Steine verschlissenen Bremsscheiben und das Leck im Getriebe gewesen. Beide Probleme sollen mittlerweile in der Serie behoben sein.

Preise und Kosten

Pro Kilometer 50 Cent (18 für Wartung/Verbrauch, 32 für Wertverlust), in alter Währung eine Mark – das ist nicht eben wenig. Auch wenn 100.000 Kilometer normalerweise in vier bis fünf und nicht in zwei Jahren gefahren werden. Der hohe Testwagenpreis lässt sich allerdings vermeiden, ohne auf die multitronic verzichten zu müssen: Der 1.8T (150 PS) kostet 6000, der 2.0 (131 PS) sogar 8000 Euro weniger als die aktuelle 3.0-Version (220 PS).