Alles wie vom Kulissenbauer arrangiert

Zu Hause glaubt mir das kein Mensch. Die zentimeterdicke Staubschicht auf dem Boden, okay, die hatte ich erwartet. Die Löcher in den Fensterscheiben auch. Aber alles andere in der verlassenen Werkshalle wirkt so, als hätte sie ein Kulissenbauer arrangiert – um mit eindrucksvollen Bildern die Geschichte des früheren Lancia-Werkes in Chivasso zu erzählen.

Der Spind dort in der Ecke zum Beispiel, in den die Arbeiter früher ihre Straßenkleidung gehängt haben, der rostet heute einsam vor sich hin. Und die großen, runden Waschbecken, an denen sie sich nach Schichtende frisch gemacht haben, die hat immer noch keiner abgebaut. In der verlassenen Direktion im Nachbargebäude liegen alte Akten und Papiere auf dem Boden. Rechnungen, Belege, Computerdisketten im antiquierten 5 1/4-Zoll-Format – alles haben die Angestellten einfach zurückgelassen. An der Wand hängt sogar noch ein Kalender mit Katzenmotiv. Er zeigt die Monate November und Dezember 1995.

Hätten Autos Gefühle, unser Lancia würde heulen. Es ist ein Delta HF Integrale 16V, Baujahr 1993, einer der letzten seiner Art und in Deutschland schon mit Kat ausgerüstet. Er steht stellvertretend für 75.057 Delta (inklusive Prisma und Dedra), die von 1980 bis 1998 verkauft wurden und den Italienern Platz 194 in der ewigen Bestenliste "Deutschlands Top 200" beschert haben.

Technische Daten Lancia Delta HF Integrale 16V Kat • Vierzylindermotor, vorne quer eingebaut • zwei obenliegende Nockenwellen • vier Ventile je Zylinder • Abgasturbolader mit Ladeluftkühler • 1995 cm³ • 155 kW (210 PS) bei 5750/min • maximales Drehmoment 308 Nm bei 2500/min • Fünfgang • permanenter Allradantrieb (47/53 Prozent vorn/hinten) • Einzelradaufhängung • innenbelüftete Scheibenbremsen • ABS • Länge/Breite/Höhe 3900/1770/1365 mm • Reifen 205/45 ZR 16 • Leergewicht 1340 kg • Spitze 220 km/h

Ernste Blicke beim Lancia Delta-Jubiläum

Wir haben den Integrale aus Heilbronn nach Chivasso bei Turin gebracht, um im Staub der Geschichte nach seinen Wurzeln zu suchen. Unter einer dicken Staubschicht, die sich seit über einem Jahrzehnt angesammelt hat: Schon um 1993 übergab Lancia die Produktion in Chivasso an Karosseriebauer Maggiora, 1994 wurde die Integrale-Fertigung eingestellt. Wie das Kalenderblatt belegt, durften die Lancia-Mitarbeiter in der Verwaltung zwar noch ein gutes Jahr länger bleiben, dann war auch für sie Schluß. Die nächste Delta-Generation kam schon aus Pomigliano am Vesuv.

Das Werk Chivasso, in dem mal bis zu 7800 Menschen gearbeitet haben, ist heute ein Industriepark mit 2000 Beschäftigten. Die ehemalige Lancia-Teststrecke wird jetzt von Tuner Abarth benutzt, die danebenliegende Halle steht leer. Auf deren Dach wachsen sogar schon kleine Bäume.

Giuseppe Stocco ist seit 1972 in Chivasso. Er verwaltet den Industriepark, ist tief im Herzen aber noch ein Lancisto. Stocco holt ein Album hervor und zeigt uns ein Schwarzweißfoto. Es wurde am 9. März 1984 aufgenommen und zeigt die Arbeiter an der Bandstraße mit dem 200.000. produzierten Delta. Einige der Männner verschränken die Arme, viele schauen ernst. Als würden sie schon ahnen, daß hier in ein paar Jahren Schluß sein wird.

Kurven-Ritt im 210 PS starken Integrale 16V

In einem Fiat Punto fährt uns Signore Stocco über das Gelände. Wir sehen viel Wellblech und viel Rost und suchen nach alten Lancia-Logos. Vor einem grauen Gebäude stoppt Stocco, schaut uns wehmütig an und sagt: "Neulich habe ich hier noch ein Lancia-Symbol gesehen. Anscheinend haben sie das jetzt auch noch weggemacht." Es ist nicht viel geblieben von der alten Pracht.

Wir fahren nach Fobello, einem Bergdorf, das man nur nach einem zweistündigen Ritt über kurvige Paßstraßen erreicht. Hier wurde Firmengründer Vincenzo Lancia am 24. August 1881 geboren. Und wenn er sehen könnte, wie sportlich der 210 PS starke und 1340 Kilo leichte Integrale die kurvige Strecke rauf nach Fobello nimmt, ihm würde das Herz aufgehen.

Schon als der allererste Delta 1979/80 auf den Markt gekommen war, hatten die Tester seine Straßenlage und Federung gelobt. Kaiser Franz Beckenbauer versprach in Anzeigen: "Ich wette, er erobert sich auch bei Ihnen einen Stammplatz." Sie konnten nicht ahnen, was für ein Geschoß Lancia 1987 auf der IAA präsentieren würde: Den Delta HF Integrale (kommt von "trazione integrale" auf deutsch "umfassender Antrieb") – im Grunde ein Rallye-Auto mit nebenbei gebauten Straßenversionen.

Die Gruft von Vincenzo Lancia ist die größte

Auf den kurvenreichen Bergstraßen nach Fobello kann man das prima erfahren: Der Integrale krallt sich geradezu in den Asphalt und wäre prinzipiell ganz entspannt zu fahren – wären da nicht das riesige Turboloch und die brachiale Lautstärke. Erschöpft steigen wir in der Ortsmitte von Fobello aus. Eine Kirche, zwei Kneipen, ein Friedhof. Die Gruft von Vincenzo Lancia, der am 15. Februar 1937 an einem Herzinfarkt gestorben ist, ist die größte von allen. Vorm Altar stehen zwei Blumensträuße: einer mit Rosen, einer mit Flieder, beide aus Plastik.

Drüben, in der belebteren der beiden Kneipen, sitzen drei Männer und trinken Rotwein. Im Fernsehen läuft eine Quizshow, nebenbei klärt uns Bauzeichner Pietro Marchisotti über die Familiengeschichte der Lancias auf. Und über das, was nicht in den offiziellen Quellen steht.

Zum Beispiel, daß Vincenzo Lancia gar nicht der behütete Sohn eines Konservenfabrikaten gewesen sei, wie überall geschrieben steht, sondern ein ärmlich aufgewachsener Bauernsohn. Daß er als Kind am nahegelegenen Bergbach kleine Wassermühlen gebaut habe und darüber regelmäßig vergaß, zur Schule zu gehen. Vor allem aber, daß Lancia auch später als erfolgreicher Autohersteller Fobello nie vergessen habe: Er hat hier Straßen und eine Schule gebaut und ließ auch die Kirche wieder aufbauen, nachdem der Fluß Mastallone sie im Mai 1923 weggerissen hatte.

"Die Nachfahren lassen alles verkommen"

Die Menschen hier in Fobello sind stolz auf Vincenzo, aber nicht auf seine Nachfahren. Sohn Giovanni konnte die Firma nicht halten, die Anteile gingen an einen Zementmillionär und an den Vatikan, bevor Fiat das Unternehmen 1969 übernahm. Angeblich für umgerechnet 9000 Euro.

"Die Nachfahren von Vincenzo sind entweder tot oder kümmern sich um gar nichts mehr", sagt Bauzeichner Marchisotti. Die Villa Lancia, die auf einem Hügel steht und inzwischen einem entfernteren Nachfahren gehört, stehe bereits kurz vor dem Verfall.

In leicht deprimierter Stimmung fahren wir zurück nach Turin. Zu einem Industriegelände mitten in der Stadt, auf dem das Lancia-Werk zwischen 1911 und 1962 gestanden hat. Und wo wir heute, vor einer wirklich unscheinbaren Halle, Enrico Masala, den Ehrenpräsidenten des Lancia-Clubs Italien, treffen.

Als Lancia noch teurer war als Mercedes

Er führt uns durch eine Sammlung aller Lancia-Modelle, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Dicht gedrängt steht hier Auto neben Auto: Die Alpha Limousine von 1907 (Lancias erstes Auto), die wie ein edler Salon auf Rädern aussieht. Das Theta Coupé von 1913, das erste Auto mit Elektrik. Lambda, Aurelia, Flavia, Fulvia und so weiter und so weiter.

"Wie Bugatti war Lancia ein echter Konstrukteur, dem ging es nie allein ums Geld", sagt Masala und erklärt, warum Vincenzo Lancia selbst nie Werbung für seine Autos gemacht habe: "Er war überzeugt, daß die Wagen selbst die beste Werbung seien." Es ist der Glanz der großen Lancia-Zeiten, den man hier in der Sammlung findet. Als Lancia für große Innovationen stand. Als die Modelle, wie Masala stolz erzählt, teilweise doppelt so teuer waren wie die von Mercedes-Benz und sich trotzdem gut verkauften. Und als es bei Lancia noch keine dicken Staubschichten in verlassenen Werkshallen gab ...

In AUTO BILD 25/2005 und etwas später bei autobild.de geht es mit "Deutschlands Top 200" (Platz 190 bis 181) weiter – mit einem Auto, das gleichzeitig entsetzt und entzückt hat.

Von

Alex Cohrs