Er war am Norisring der Mann der Stunde: Mercedes-Pilot Robert Wickens (25) fuhr am Sonntag zu einem ungefährdeten Start-Ziel-Sieg. „Einen besseren Tag als heute hätte ich mir gar nicht wünschen können. Gestern die Pole, heute der Sieg – und beides so unerwartet: Ein Traum!“, schwärmt Wickens nach seiner Demonstration auf dem Startkurs, nur um anschließend auf die Frage nach der Party-Planung am Abend in gewohnt trockenem Humor zu entgegnen: „Party? Nein, nein... ich lese vielleicht ein Buch, gehe um zehn Uhr ins Bett und trinke davor noch ein Glas Wasser.“ Wie Wasser sah die Flüssigkeit in Wickens’ Sektglas bei der anschließenden Gesprächsrunde mit AUTO BILD MOTORSPORT zwar nicht aus, doch der Tagessieger hatte in Nürnberg eben in vielerlei Hinsicht Grund zum Feiern: „Mein Vater und meine Tante sind extra den weiten Weg aus Kanada hergekommen. Das macht dieses Wochenende noch spezieller“, so Wickens.

Familie geht über alles

Robert Wickens
Spaßvogel: Robert Wickens kann viel - auch lustig sein...
Die Familie ist für ihn alles, sagt Wickens und erklärt: „Wir haben eine ziemlich einzigartige Geschichte und die muss man kennen, um das zu verstehen.“ Also Feuer frei! Wer ist denn nun dieser Robert Wickens? „Ich komme aus Guelph, einer kleinen Stadt 40 Kilometer nordwestlich von Toronto“, sagt der Kanadier bei der Frage nach seiner „Herkunft“. Heimat sei nicht der richtige Begriff. „Es ist schon komisch... die Deutschen kennen mich noch nicht so richtig und die Kanadier mich nicht mehr“, schmunzelt Wickens, der die letzten Jahre für seinen Traum von der großen Motorsport-Karriere um die Welt tingelte. Er denkt an seine Anfänge zurück. „Ich komme nicht gerade aus wohlhabenden Verhältnissen. Spätestens nach meiner teuren Kart-Karriere waren wir mehr oder weniger pleite. Meine Familie hat damals ihr Haus verkauft, um mein letztes Jahr im Kart zu finanzieren“, verrät Wickens, der sagt: „Ich fühle mich heute noch schlecht deswegen, denn mit 14 Jahren habe ich das gar nicht so verstanden, sondern mich wahrscheinlich eher noch beschwert, warum wir umziehen müssen...“

Ein steiniger Weg

Doch die Jahre haben seine Sichtweise stark verändert. „Ich bin so dankbar für alles, was meine Familie für mich gemacht hat. Nicht nur meine Eltern – selbst mein Bruder, der fünf Jahre älter ist, hat schon mit 15 einen Fulltimejob in einem Kartshop angenommen, um mein Material zu bezahlen. Heute gehört ihm der Laden, aber damals haben wir beide dort hart gearbeitet. Schule, Arbeit bis abends, dann noch die Hausaufgaben, ab ins Bett und am nächsten Tag von vorne“, denkt der Norisring-Sieger zurück. Doch trotz aller Hindernisse – eintauschen möchte Wickens seine schwierige Vergangenheit nicht. „Am Ende hat mich dieser steinige Weg auch zu der Person und zu dem Fahrer gemacht, der ich bin. Ich nehme nichts als selbstverständlich hin, sondern war immer dankbar für die Gelegenheiten, die sich mir geboten haben. Ich bin ziemlich demütig und glaube daran, dass man für alles im Leben hart arbeiten muss.“ Diese akribische Einstellung zahlt sich heute auch auf der Strecke aus. Besonders bei schwierigen Bedingungen brilliert Wickens deshalb. Schon seinen ersten DTM-Sieg vor einem Jahr am Nürburgring fuhr er bei ähnlich nassen Verhältnisse raus wie nun auf dem Norisring.

Druck kommt nur von innen

Robert Wickens
Immer cool bleiben: Druck von außen gibt es bei Wickens nicht
„Cool bleiben“, lautet Wickens Rezept in kniffeligen Situationen. Selbst hat er dieses Motto schon immer umgesetzt. „Ich war schon als Kind im Kart nie nervös, verspüre höchstes eine positive Aufregung.“ Der Kanadier ist gegen Druck von außen immun. „Es gibt nur einen Druck – den, den ich mir selbst mache. Der ist sowieso am höchsten, aber damit kann ich umgehen.“ Auch das ist ein positiver Begleiteffekt seiner Prägung. „Ich bin meine ganze Karriere gegen Jungs gefahren, die viele Karts, Motoren und tausende von Dollar hatten. Wir hatten nur uns – ein Familienteam. Aber das würde ich gegen nichts in der Welt eintauschen.“ Doch ganz ohne fremde Hilfe geht es im Motorsport eben doch nicht. Und so kam der Moment, der alles verändern sollte: Das Weltfinale der Formel BMW in Bahrain 2005. Als Gaststarter qualifizierte sich Nobody Wickens auf der Pole-Position. Wegen eines fehlenden Teils an der Aufhängung wurde der Kanadier zwar disqualifiziert, doch mit seiner Leistung hatte er auf sich aufmerksam gemacht.

Red Bull klopft an die Tür

„In den drei Rennen musste ich als Letzter von 36 Autos losfahren, bin trotzdem Sechster, Fünfter und Dritter geworden. Und schon stand Helmut Marko (Red Bulls Motorsportberater; d. Red.) auf der Matte“, erinnert sich der 25-Jährige breit grinsend. Doch den Vertrag für das Nachwuchsprogramm durfte Wickens damals nichts sofort unterschreiben. „Weil ich noch minderjährig war, mussten meine Eltern das erledigen. Ich nahm das Ding also mit in den Flieger und habe es auf dem ganzen Heimflug lang ungläubig angestarrt. Ich dachte nur: ‚Red Bull. Wow!’“ Der Getränkehersteller setzte Wickens anschließend in der nordamerikanischen Formel-Atlantic ein. Dafür zog er nach Indianapolis, um nah bei seinem Team Forsythe zu sein. „Als Teenager kann man da nicht viel machen, einen Führerschein hatte ich auch noch nicht. Also habe ich meine Teamchefs in den Wahnsinn getrieben und sie andauernd gefragt, ob sich mich ins Kino oder sonstwo hinfahren können“, erinnert sich Wickens lachend an seine Anfänge im Profigeschäft.

Einmal um die Welt

Robert Wickens
Grundstein: Der Titel in der Formel Renault 2011 brachte Wickens in die DTM
Seinen Schulabschluss an der Highschool machte er parallel online. Wenn dann doch einmal Anwesenheitspflicht bestand, kollidierten die Termine schnell mit seiner Rennkarriere. „Einmal musste ich von einem Rennen in Neuseeland zurück nach Kanada fliegen, direkt vom Flughafen in die Schule, einen Test ablegen und danach zurück zum Flughafen, nur um sofort  zum nächsten Rennen nach Australien aufzubrechen – grauenhaft!“ Das Reisen hat ihm nach solchen Erfahrungen aber irgendwann nicht mehr so viel ausgemacht und so mauserte sich Wickens zum Weltenbummler. Drei Jahre lebte er anschließend in Milton Keynes nahe der Red-Bull-Fabrik, dann ein Jahr in Berlin, um zum Beginn seines DTM-Engagements Deutschland kennenzulernen. „Anschließend habe ich meine Zelte in Stuttgart aufgeschlagen, um näher an Mercedes dran zu sein.“

Kein 24-Stunden-Motorsportler

Mittlerweile hat es ihn nach London verschlagen – zum um die Welt Fliegen strategisch besser gelegen. „ Und ich habe da noch viele Freude aus meiner ersten England-Zeit.“ Sie sind wichtig für ihn, um einmal abzuschalten und den Kopf vom Rennfahren frei zu kriegen. „Ich bin niemand, der den Motorsport 24 Stunden am Tag atmen und leben muss“, schlägt Wickens unter seinen Fahrerkollegen selten gehörte Töne an. Und relaxen, alles hinter sich lassen... wo soll das besser gehen als in seinem geliebten Kanada? „Dort habe ich Leute, die nichts mit Motorsport am Hut haben. Für die bin ich dann nicht der Fahrer, sondern nur irgendein normaler Kerl und das ist sehr entspannend.“ Dass diese Pausen vom PS-Zirkus seinen Fokus aber weg vom Motorsport lenken würden, verneint der 25-Jährige. „Viel mehr sind sie wichtig, um wieder Kraft für die nächste Aufgabe zu haben.“

Eishockey in der Heimat

Robert Wickens
Vor der Konkurrenz: Auf dem Norisring fuhr Wickens auf und davon
Einen Beleg für diese These liefert Wickens auch gleich: „Ich bin zwar nicht abergläubisch. Aber vor jedem DTM-Podium, das ich eingefahren habe, war ich exakt in der Woche davor in Kanada... in der Formel Renault war das bei meinen fünf Siegen 2011 auch schon so. Das ist quasi ein Gesetz – wenn auch ein verrücktes.“ Die Zeit in Kanada nutzt Wickens dann auch gerne für seine zweite Leidenschaft neben dem Rennfahren: Eishockey. Wenn er nicht gerade seinem Lieblingsteam Toronto Maple Leafs als Zuschauer die Daumen drückt, spielt der Mercedes-Pilot auch gerne einmal selbst. „Vor allem im Winter, wenn ich daheim bin. Dann geht es mit Freunden dreimal die Woche auf’s Eis.“ Allerdings nur in einer Hobby-, oder wie Wickens sie nennt: „Bier-Liga.“ Ob er auch auf Schlittschuhen das Talent zum Spitzensportler hatte, vermag der Kanadier aber nicht zu sagen. „Meine Eltern haben mich im Alter von sieben Jahren gefragt, was ich machen will: Eishockey oder Go-Kart. Ich habe Letzteres gewählt...“ Nicht zuletzt der eindrucksvolle Norisring-Sieg am Sonntag hat bewiesen: Es war die richtige Entscheidung.
Neues Kräftegleichgewicht auf dem Norisring: Mercedes Top - BMW Flop

Von

Frederik Hackbarth