Hemmschuh beim Tempo sind die Reifen

Als die erste deutsche Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth 1835 in Betrieb genommen wurde, waren sich die Bedenkenträger einig: Eine konstante Geschwindigkeit von 40 km/h könne der Mensch auf Dauer unmöglich aushalten. Schwerwiegende körperliche Schäden seien bei diesem Höllentempo fast zwangsweise die Folge.

Das 21. Jahrhundert beweist, dass der Körper auch mit der zehnfachen Geschwindigkeit klarkommt. Der Transrapid fährt bis zu 400 km/h. Die Magnetschwebebahn hat allerdings auch keine Räder – und keine Reifen. Die sind nämlich meistens der Hemmschuh bei der Suche nach immer höheren Tempi. Alltagstaugliche Pneus machten bisher bei spätestens 330 km/h schlapp. Der neue Continental SportContact2 Vmax erlaubt 360 km/h.

Bevor wir sämtliche Autobahnen um eine Express-Spur erweitern, sei jedoch gesagt, dass die Hersteller mit Conti nicht Schritt halten: Kein einziges (Großserien-)Auto schafft momentan 360 km/h. Aber es gibt ja die Tuner. Und die warten sehnsüchtig auf einen Reifen wie den Vmax. Wobei 360 km/h auch für die Veredler kein Pappenstiel sind. Ab 300 km/h muss der Motor für zehn km/h mehr Geschwindigkeit etwa 100 PS zusätzlich aufbringen.

TechArt und 9ff wollen die 360 knacken

Auf dem Highspeed-Oval im süditalienischen Nardo gewährt der Reifenhersteller acht Tunern freien Auslauf. Ein erlesenes Starterfeld hat sich eingefunden: Ordentlich in Reih und Glied aufgestellt, präsentieren sich acht Traumautos, deren Zusammentreffen an sich schon ein monumentales Ereignis darstellt. Am Abend vor dem entscheidenden Tag üben sich die meisten Tuner in Tiefstapelei: Alles über 300 km/h sei ein Erfolg, heißt es unisono.

Die leuchtenden Augen verraten uns jedoch: Sie hoffen auf mehr. Nur die Porsche-Tuner machen aus ihren Ambitionen, die Grenzen des Reifens auszuloten, keinen Hehl. Sowohl TechArt als auch 9ff wollen die 360 knacken. TechArt tritt mit seinem altbekannten GT Street S an, einem Porsche auf GT2-Basis. 9ff setzt auf Allradtechnik. Sein Umbau basiert auf dem Porsche Turbo. Beide versuchen sich am altbewährten Tuning des Porsche-Doppelturbos.

Digi-Tec hingegen geht neue Wege. Die muss er auch einschlagen, schließlich hat er Großes vor: Der Tuner aus Datteln will den Rekord für straßenzugelassene Cabrios brechen. "365 km/h sollten mit unserem Auto möglich sein", hofft Chef Michael Pollmüller. Sein offener Flitzer sieht nur auf den ersten Blick aus wie ein normales 911-Cabrio. Unter der Haube steckt ein GT3-Motor. Dessen langes Drehzahlband ermöglicht im sechsten Gang – rein theoretisch – 370 km/h. Praktisch reicht die Power der GT3-Maschine dafür aber bei weitem nicht aus. Deshalb hat Digi-Tec dem Motor zusätzlich zwei Turbolader spendiert.

Nardo bietet traumhafte Bedingungen

Sonntag früh, vier Uhr: Am Rande der Rennstrecke herrscht rege Betriebsamkeit. Nur dieser eine Tag steht zur Verfügung. Vor allem die Mannschaft von LC Racing ist nervös. "Als wir das Auto gestern vom Hänger fahren wollten, riss der Keilriemen. Wir haben die ganze Nacht telefoniert, um einen neuen aufzutreiben. Hoffentlich kommt er rechtzeitig an", bangt Chef Peter Brecht. Digi-Tec hat ebenfalls mit Problemen zu kämpfen. Die Kupplung streikt. Pollmüller kann den Defekt jedoch beheben.

Pünktlich zum Sonnenaufgang erfüllt das Bollern hochgezüchteter Motoren die Rennstrecke – die Tuner erkunden die Strecke. Nardo bietet traumhafte Bedingungen. Das Hochgeschwindigkeits-Oval ist 12,6 Kilometer lang. Bis Tempo 250 ist die Strecke querkraftfrei, die Illusion, geradeaus zu fahren, nahezu perfekt. Erst darüber muss der Pilot gegenlenken. Ab 320 rückt die äußere Leitplanke immer näher. Jetzt muss der Fahrer maximale Konzentration aufbringen.

Bei den Mercedes-Tunern läuft alles wie am Schnürchen. Keines der Autos macht Kummer. Die erreichten Endgeschwindigkeiten liegen eng zusammen: Brabus fährt 315 km/h, Carlsson 316 km/h. Lorinser stagniert bei Tempo 306. Trotz prominentem Fahrer: Robert Schäfer, altgedienter DaimlerChrysler-Testfahrer (zuletzt mit der Abstimmung des SLR beschäftigt), lenkt den Boliden. Der Tuner hadert mit seinem Schicksal: "Conti hat nur 19-Zöller im Programm. Wir benötigen für unseren SL aber eigentlich 20 Zoll." Der geringere Abrollumfang kostet Geschwindigkeit.

Rekorde fallen nicht bei Sonnenschein

BMW-Tuner Hartge hält tapfer mit. Sein M3 mit M5-Motor und Kompressor kommt ebenfalls auf 306 km/h. Die Porsche-Piloten indes werfen immer wieder einen Blick aufs Thermometer. Jedes zusätzliche Grad Außentemperatur macht Geschwindigkeitsrekorde unwahrscheinlicher – und die Sonne brennt von Stunde zu Stunde intensiver. Die modifizierten Biturbomotoren sind äußerst sensibel. Wird es ihnen zu heiß, knicken sie ein.

Jan Fatthauer von 9ff muss nach wenigen Runden einen außerplanmäßigen Boxenstopp einlegen. "Wir sind mit Tempo 310 über eine Bodenwelle zwischen Kilometer drei und vier geschossen. Die hat das Auto so brutal ausgehebelt, dass es abgehoben ist. Beim Einfedern flog dann ein Schlauch vom Ladeluftkühler ab."

Auch Digi-Tec scheint vom Pech verfolgt. "Dem Motor mangelt es an Leistung. Aufgrund eines Lecks in der Kraftstoffleitung fehlt uns der nötige Benzindruck." Für heute hat Michael Pollmüller genug: "Aber wir kommen wieder."

Ein anderer Totgeglaubter taucht plötzlich, munter vor sich hin brabbelnd, wieder auf: Der Ferrari von LC Racing meldet sich zurück – der neue Keilriemen ist doch noch eingetroffen. Mit 314 km/h knallt der Tuner denn auch ruck, zuck eine respektable Geschwindigkeit aufs Parkett. Der Spaß währt jedoch nicht lange: Ein Vertreter der internationalen Presse überfährt einen winzigen Poller – und reißt dabei die Frontspoilerlippe ab.

372,2 km/h – Ritt auf der Rasierklinge

Bei all dem Trubel geht TechArt fast unter. Der Tuner dreht unauffällig seine Runden, bleibt von Defekten verschont und wirft seine Nardo-Routine in die Waagschale. "Bei unserem letzten Vmax-Versuch stoppte uns die zu harte Abstimmung bei 334 km/h", erzählt TechArt-Inhaber Thomas Behringer. Diesmal stimmt das Set-up: Der GT Street S fährt 361 km/h. Der Sieg scheint sicher.

Aber nur nicht zu früh gefreut. Auf einmal rollt das 9ff-Auto wieder auf die Strecke. Fatthauer will es jetzt wissen. Er klemmt sich hinters Steuer, zieht mit entschlossener Miene den Helm über. Minuten später herrscht andächtiges Schweigen. Das GPS-Messgerät zeigt 372,2 km/h an, gefahren wohlgemerkt mit einem unscheinbaren Porsche Turbo, den von außen nur die Felgen und ein anderer Heckflügel von der Serie unterscheiden.

Jan Fatthauer ist wunschlos glücklich: "Die Power hat gestimmt. Trotzdem hatte die Fahrt Ähnlichkeit mit einem Ritt auf der Rasierklinge. Durch die hohen Außentemperaturen ist der Motor thermisch an seine Grenzen gestoßen. Die Maschine stand ständig kurz davor, Leistungsabfall zu haben. Zudem hat das Auto bei jeder Unebenheit auf der Piste heftig versetzt." Die Pneus steckten Fatthauers Extremfahrt übrigens problemlos weg.

Das Schlusswort gebührt natürlich dem Sieger – der sich mit dem Erreichten keineswegs zufrieden gibt: "Wir arbeiten an der nächsten Leistungsstufe. Continental darf das Limit ruhig weiter in die Höhe schrauben – wir sind vorbereitet." Alles klar: Sollten Sie mal im Transrapid unterwegs sein und ein Auto zieht draußen an Ihnen vorbei, wissen Sie jetzt, aus welchem Stall es kommen könnte – und welche Reifen möglicherweise darunter stecken.