Wer an Sportwagen aus England denkt, der kommt an Lotus einfach nicht vorbei. Der legendäre Seven dürfte nahezu jedem Autoliebhaber ein Begriff sein. Noch heute, 60 Jahre nach der Präsentation des Klassikers, lebt der Geist des Einbaums in Form von Caterham, Donkervoort und Co. fort. Mitte der 60er-Jahre war man sich bei Lotus allerdings schon einig, dass der Seven der immer größer werdenden Popularität der Marke und dem anspruchsvollen Image nicht mehr gerecht werden würde. So entstand 1964 unter dem Projektnamen "P5" nicht nur einer der ersten Sportwagen in Mittelmotor-Bauweise der Welt – noch vor Lamborghini Miura und Porsche 914 –, sondern der erste englische Mittelmotorsportler überhaupt: der Europa. Erst 40 Jahre später sollte dieser Name wiederbelebt werden. Dabei kann der Europa von damals auf ein turbulentes Leben zurückblicken. Trotz des gehobenen Anspruchs war er ein Billigmodell, das jedoch zu keiner Zeit als wirklich preiswert zu bezeichnen war. Lange Zeit stand er auf dem Heimatmarkt gar nicht zur Verfügung. Und wirklich akzeptiert wurde die Flunder seinerzeit auch nicht.

Für den Vortrieb sorgte damals ein französisches Herz

Lotus Europa S2
Geschmacksache: Wirklich betörend schön ist der historische Europa nicht.
Der Ur-Europa geht auf Pläne des Lotus-Gründers Colin Chapman zurück, dem ein puristischer GT mit möglichst vielen Fremdteilen vorschwebte. Den richtigen Motor für das ehrgeizige Projekt fand Chapman 1965 auf dem Genfer Salon im neu vorgestellten Renault R16. Dessen Motorblock und Getriebegehäuse aus Aluminium waren damals schon mehr als außergewöhnlich, und der Vierzylinder war für Tuningmaßnahmen geradezu prädestiniert; Modifikationen schraubten die Leistung auf 82 PS. Dieser Motorleihgabe verdankt der Europa letztlich auch seinen Namen. Ursprünglich sah Chapman Bezeichnungen wie Elfin oder Concorde vor. Um die anglofranzösische Natur des Neulings hervorzuheben, einigte man sich schließlich auf den Namen Europa. Auch heute noch haben die 82 Pferdchen mit den gerade einmal 665 Kilogramm des Europa leichtes Spiel. Erstaunlich, was seinerzeit bereits für Fahrleistungen möglich waren. Reizt man das volle Potenzial von Motor und Vierganggetriebe aus, sind Geschwindigkeiten knapp unterhalb der 190-km/h-Marke realisierbar.

Der neue Europa S steht auf der Plattform von Elise und Exige

Lotus Europa S
Kein Einzelkind: Der neue Lotus Europa teilt sich die Plattform mit Elise und Exige.
Auch der Europa S der Gegenwart schwingt sich zu beachtlichen Fahrleistungen auf: 241 km/h läuft der Brite bei freier Bahn. Wie schon beim alten Europa finden auch in seinem Nachfahren bewährte Komponenten Verwendung. Sein 200 PS starkes Turboaggregat befeuerte bereits den Opel Speedster Turbo, und die Plattform teilt sich der Europa S nicht nur mit seinen sportlicheren Schwestermodellen Elise und Exige, sondern auch mit besagtem Speedster von Opel und dessen britischem Pendant, dem Vauxhall VX220. So blieben die Ingenieure dem alten Motto treu. Auch der Purismus im Innenraum blieb erhalten. Gut, im Vergleich zu Elise und Exige wirkt das lederbezogene Interieur schon luxuriöser. Im Vergleich zu Porsche Cayman und Co., gegen die der Europa S zweifelsohne platziert ist, wirkt das Prädikat "zweckmäßig" aber durchaus treffend. Die engen Schalensitze bieten kaum Komfort, passen dafür aber wie angegossen. Sein Vorfahre steht dem kaum nach, auch sein Gestühl glänzt mit viel Seitenhalt. Nur beim Anschnallen sind etwas Geduld und Fingerspitzengefühl gefragt, müssen die Gurte doch noch in mühevoller Handarbeit festgezurrt werden. Früher war eben nicht immer alles besser.
Auch beim Fahrverhalten spürt man den technischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte. An die Direktheit des neuen Europa kommt sein Vorfahre bei Weitem nicht heran, doch wen wundert das? Vor allem die im Europa von damals verbauten Gummipuffer an der Hinterachse lassen ihn sehr empfindlich auf Stöße aller Art reagieren. Die richtige Fahrwerkseinstellung war und ist ein wahrer Balanceakt zwischen fahrbar und unfahrbar. Eine Grauzone gibt es da kaum. Aber nicht nur die Hinterachse war problembehaftet. Auch das Verhalten der Vorderachse ist aus heutiger Sicht mehr als schwammig; das tiefe Eintauchen des Vorderwagens beim Bremsen erfordert schon etwas mehr als nur Gewöhnung. Einem Europa der Neuzeit sind derartige Schwächen unbekannt. Er lässt sich zielsicher und friedlich über die Straßen dirigieren. Mitverantwortlich hierfür: die hervorragend agierende Lenkung ohne Servounterstützung. Einen Europa zu fahren, ist damals wie heute ein faszinierendes Erlebnis. Man kann sich schon jetzt auf die Neuauflage der Neuauflage freuen – hoffentlich noch vor dem Jahr 2046.

Von

Sebastian Schneider