Gegen den Cossie ist der Focus richtig fett

Zuerst waren wir entsetzt, als wir den Sierra RS Cosworth nach langen Jahren der Abstinenz wiedertrafen. Himmel, was ist der klein! Der Cossie, wie er noch heute liebevoll genannt wird, wirkte fast ein bißchen zerbrechlich. Daneben der Grund für diesen Eindruck: ein aktueller, omnipräsenter Focus ST. Prall, rund, hoch – modern ausgedrückt: "fett". Kein Wunder: Der alte Haudegen ist gut elf Zentimeter schmaler und sieben Zentimeter niedriger als der Nachfahre. Um so erstaunlicher: Als der erste Sierra 1982 auf den Markt kam, wurde er wegen seiner Größe als ausgewachsener Mittelklassewagen eingestuft.

Den Focus dagegen zählt man heute zu den Kompakten – die eigentlich eine ganze Klasse tiefer angesiedelt sind. So ändern sich die Zeiten. Und der Ford Sierra RS Cosworth war alles andere als niedlich, als er im März 1986 auf die Menschheit losgelassen wurde. Von Fords Sportschmiede Special Vehicle Operations (SVO) entwickelt, wurde er für die Straße homologiert, um auf der Rennstrecke abräumen zu können. 5000 Stück brauchte Ford für die Zulassung bei den Gruppe-A-Tourenwagen. Die Eckdaten der Straßenversion: 204 PS aus einem Zwei-Liter-Grauguß-Motorblock dank Leichtmetallzylinderkopf, zwei obenliegender Nockenwellen (die von einem glasfaserverstärkten Zahnriemen angetrieben werden), 16 Ventilen und einem Garrett-Ai-Research-T3-Turbolader samt Ladeluftkühler.

Das Fahrwerk geriet straff, die Radführung war präzise – dank neuartiger Stahllager mit kugelgelagerten Innenbuchsen für die Anlenkung der Vorder- und Hinterachse, strafferer Federn und Gasdruck-Stoßdämpfern, einem 28 Millimeter dicken Querstabi hinten und 205er-Breitreifen. Und dann war da natürlich noch dieses enorme Teil von einem Heckflügel, das beim Spitzentempo von 240 km/h tatsächlich für 20 Kilo Abtrieb sorgt.

Im ST steckt Turbo-Technik von Volvo

Ford meldete 1986 nicht ohne Stolz: "Es dürfte das einzige potentielle Gruppe-A-Auto sein, das derartige Abtriebswerte bereits bei der Straßenversion bietet." Und der Cossie war der erste Ford, der offiziell den Beinamen "Cosworth" trug. Das bedeutete: Aluminium-Köpfe aus der damals neugegründeten Cosworth-Gießerei in Worcester, Zusammenbau der Motoren in einer nagelneuen Cosworth-Produktionshalle in Wellingborough. Von den Ford-Großserienteilen verblieben nur noch der Motorblock, die Hilfswelle für Ölpumpe und Verteiler sowie die Wasserpumpe.

Wer einen Cossie besaß, hatte es geschafft, sportive Ambitionen mit familiären Bedürfnissen zu vereinen. Bei Besetzung mit fünf Personen paßten noch einige Koffer hinein, bei umgeklappter Rückbank sogar die Camping-Utensilien. Für zeitgemäße Aerodynamik sorgten nicht nur der Picknicktisch am Heck, sondern auch noch 92 Detailänderungen an der Karosserie des normalen Sierra. Niemand regte sich darüber auf, daß der Ford auch noch richtig kraftvoll aussah.

Und nun also ein Focus ST. Eigentlich für die gleiche Klientel, die aber entweder 20 Jahre älter geworden ist oder 20 Jahre moderner. Fünf Plätze, ein ordentlicher Kofferraum, ein paar Anbauteile, ein – im Vergleich stummeliger – Heckflügel für ein bißchen Abtrieb und viel Optik: So schnell ändert sich die Welt eben doch nicht. Bis auf die zehn Zentimeter, die dem Focus zum Sierra in der Länge fehlen, gibt es viele weitere, erstaunliche Parallelen. Zum Beispiel einen Turbomotor (hier ein bearbeiteter 2,5-Liter-Volvo-Fünfzylinder mit 225 PS dank KKK-Lader), der bereits ab 1600/min 320 Newtonmeter an die Vorderachse abgibt. Damit steckt erstmals ein Volvo-Aggregat in einem Ford – was nur deshalb funktioniert, weil sich der ST die Plattform mit dem Volvo S40 und V50 teilt.

ESP war damals noch ein Fremdwort

Trotz modernsten Fahrwerks nur acht Kilo mehr erlaubte Zuladung als der Cossie, dafür ein Mehrgewicht von 152 Kilo. Mit 241 km/h nur eine Spur schneller als der alte Ford (der bei Tests allerdings immer besser abschnitt, als es das Werk in den technischen Angaben kommunizierte). Und mit 6,8 Sekunden genauso schnell auf 100 km/h wie der straffe Ahne. Im Ernst: Wo bleibt da eigentlich der Fortschritt? Die Frage beantwortet sich im Fahrbetrieb: in der Sicherheit und im Handling. Wir konnten beide Wagen auf der bunten Ecclestone-Strecke in Le Castellet am Limit ausprobieren.

Hier läßt sich der frontgetriebene Focus bedenkenlos pfeilschnell durch Kurven werfen, ohne daß das ESP auch nur ansatzweise eingreifen muß. Ganz anders der Cossie: ESP ist für ihn noch ein Fremdwort, statt dessen bricht das Heck schon in jeder auch nur halbwegs flinken Kurve aus. Querfahren ist dem Cossie fast schon ein Bedürfnis, und es läßt sich relativ problemlos kontrollieren. Der Turbo im Cossie setzt bereits knapp über der Leerlaufdrehzahl ein. Dank serienmäßiger Visco-Sperre im Hinterachs-Differential kommt die Kraft problemlos auf die Straße.

Bei etwa 2300/min stehen bereits zwei Drittel des Drehmoments zur Verfügung. Der Motor nimmt willig Gas bei jeder Drehzahl an, das Getriebe läßt sich exakt schalten. Wer schaltfaul fahren will, kann auch das. Giftig dagegen die Bremsen in dem von uns gefahrenen Exemplar – einer Rechtslenker-Version für den englischen Markt. Laut Ford war das bei Insel-Cossies immer so. Das ABS hält sich zunächst vornehm zurück und setzt erst dann ein, wenn der Bremsfuß schon fast abbricht.

Technische Daten, Fahrleistungen und Preise

Das alles ist beim ST kein Thema. Der fährt sich wesentlich flüssiger, unaufgeregter – vielleicht auch langweiliger? Fords Entwicklungs-Chef Richard Parry-Jones dazu: "Im ST soll sich der Fahrer vor allem auf die Strecke konzentrieren und nicht auf die Bedienung des Autos." Damals dagegen war die Zähmung eines wilden Straßensportlers für viele ein zusätzlicher Kaufgrund. Mehr als 6000mal wurde der scharfe Sierra im Werk Genk gebaut.

Auch der hohe Verbrauch schreckte die Fans nicht ab: 16 Liter Sprit auf 100 stramm absolvierten Kilometern waren normal. Immerhin war der Neupreis von 48.420 Mark nahezu konkurrenzlos. Fast dasselbe, nämlich 24.500 Euro, kostet heute ein dreitüriger Focus ST. Für weitere 800 Euro gibt's sogar zwei Türen mehr. Zumindest in dieser Disziplin siegt der Focus eindeutig: Der RS blieb zeitlebens ein Dreitürer.

Technische Daten Ford Sierra RS Cosworth: Vierzylinder, vorn längs • Turbolader mit Ladeluftkühler • vier Ventile pro Zylinder • Hubraum 1993 cm³ • Leistung 150 kW (204 PS) bei 6000/min • max. Drehmoment 276 Nm bei 4500/min • Hinterradantrieb • manuelles Fünfganggetriebe • Einzelradaufhängung rundum • Scheibenbremsen rundum, vorn innenbelüftet • Reifen 205/50 R 15 • Länge/Breite/Höhe 4459/1728/1376 mm • Radstand 2608 mm • Leergewicht 1240 kg • Kofferraum 351–1465 l • Tank 65 l • Zuladung 460 kg • 0–100 km/h in 6,8 s • Höchstgeschwindigkeit 240 km/h • Preis (1986): 48.420 Mark

Technische Daten Ford Focus ST: Reihenfünfzylinder, vorn quer • Turbolader • vier Ventile pro Zylinder • Hubraum 2522 cm³ • Leistung 166 kW (225 PS) bei 6100/min • max. Drehmoment 320 Nm bei 1600/min • Frontantrieb • manuelles Sechsganggetriebe • Einzelradaufhängung • Scheibenbremsen rundum, vorn innenbelüftet • Reifen 225/40 R 18 • Räder 8J x 18 • Länge/Breite/Höhe 4362/1840/1447 mm • Radstand 2640 mm • Leergewicht 1392 kg • Kofferraum 385 l • Tank 55 l • Zuladung 468 kg • 0–100 km/h in 6,8 s • Höchstgeschwindigkeit 241 km/h• Preis: 24.500 Euro

Von

Roland Löwisch