Zwei Männer, zwei Auto-Philosophien

Das Auto, der Deutschen liebstes Kind. Sagt der Volksmund. Der deutsche Autofahrer, der Statistiker und Konsumforscher liebstes Studienobjekt. Sagen wir. Und zwar alle Jahre wieder, wenn die neuesten Zahlen über das Kaufverhalten der mobilen Gesellschaft auf unsere Schreibtische flattern.

Beim Vergleich der Zahlen mit denen der Vorjahre lassen sich klare Trends ablesen. Etwa dieser: Der Verbleib neuer Personenwagen in erster Hand ist gestiegen. Von 58,1 Monaten im Jahr 1998 auf 61,2 Monate in 2001. Was bedeutet, dass "Otto Normalneuwagenkäufer" nach rund 5,1 Jahren zum nächsten Fahrzeug greifen wird. Zumindest theoretisch.

Praktisch gibt es unter den jährlich etwa 3,3 Millionen Neuwagenkäufern, die dieses statistische Mittel ergeben, krasse Ausreißer. Im Verkehrsalltag fallen sie nicht weiter auf; sehen ja aus wie ganz normale Bürger. Deshalb zeigen wir zwei der Zeitgenossen, die den Durchschnitt besonders weit umfahren – in unterschiedliche Richtungen: Otto Blecker (80) aus Kästorf bei Wolfsburg hat im Mai 2002 sein 61stes VW-Konzernprodukt in jungfräulichem Zustand abgeholt. Hans Schmitt (71) aus Schweinfurt fährt noch immer den Käfer, den er 1958 neu kaufte.

Wegwerfgesellschaft? Von wegen!

Was veranlasst die beiden rüstigen Rentner zu ihrem ungewöhnlichen Konsumverhalten? Bei Schmitt ist es schlicht die Verweigerung gegenüber der schnelllebigen Wegwerfgesellschaft: Der Pensionär gehört zu den Typen, die – sämtlichen Modeströmungen zum Trotz – ihre Schuhe jahrzehntelang tragen. Falls die Qualität mitspielt. Deshalb sieht (und nutzt) er sein 45 Jahre altes Vehikel nicht als Oldtimer, sondern als robustes Werkzeug zur Erledigung nüchterner Transportaufgaben.

Und Blecker, der altgediente VW-Mann? Bei ihm ist es einfach die ewige Lust am Neuen, vereint mit guten Voraussetzungen: Kaum ein Werksangehöriger hatte das Glück, bereits während der ersten Baujahre einen Käfer zu erhalten. Und noch weniger Wolfsburger Kollegen holten sich ein halbes Jahrhundert lang im Schnitt alle zehn Monate ein neues Auto. Zwei Tatsachen, die Blecker zum mutmaßlichen Rekordhalter machen.

Sein Autofahrer-Leben startet 1952: Nach zwei erfolglosen Anträgen landet der "Fall" beim legendären VW-Direktor Nordhoff höchstpersönlich – der dem hartnäckigen Werkzeugmacher (Stundenlohn 1,50 Mark) sofort ein Auto für 3600 Mark zuteilt. Am 9. Juli holt Blecker den kastanienbraunen Käfer ab.

1969 wird Otto Blecker zum Herrn der Ringe

In Schweinfurt, 250 Kilometer weiter südlich, fährt derweil Maschinenbauer Hans Schmitt Motorrad: eine 100er Torpedo, Baujahr 1940, für 70 Mark. 1957 geht Schmitt zum Opel-Händler, um einen Gebrauchtwagen zu kaufen – und verlässt den Laden mit einem VW-Vertrag, den ein ungeduldiger Besteller wegen der langen Lieferfrist in Zahlung gegeben hatte. Am 16. Januar 1958 bekommt er das diamantgraue Krabbeltier – drei Wochen, bevor Otto Blecker im fernen Kästorf seinen Käfer Nummer sechs anmeldet.

Bis 1968 kommen weitere zehn der runden Volkswagen dazu. Blecker wechselt seine Fortbewegungsmittel inzwischen so häufig, dass er gelegentlich Farbe und Kennzeichen seines derzeitigen vergisst. Eine halbe Stunde lang macht er auf dem riesigen Parkplatz des VW-Werks den Schlüsseltest. Bis sich endlich zeigt: Seiner ist der in Savannenbeige mit der Nummer HE-KK 65.

1969 wird Blecker zum Herrn der Ringe, greift zum Audi 60. Denn VW, neuer Hausherr in Ingolstadt, bietet seinen Bediensteten hier die gleichen Konditionen an. Es folgen ein VW 1600 (1970), ein VW K70 (1971) und wieder ein Audi 60 (1972), alle in poppigem Orange lackiert. Der coronagelbe Audi 80 von 1973 trägt erstmals eine Wolfsburger statt einer Helmstdter Zulassung – sein Wohnort Kästorf ist mittlerweile in die stetig wachsende Autostadt eingemeindet worden. Auch Schmitt steht eine Adressänderung bevor: Sein Hausbau geht voran, der 15 Jahre alte Käfer muss Zementsäcke schleppen. Ohne Beifahrersitz lassen sich sechs Zentner laden.

In 50 Jahren nicht einmal Öl nachgefüllt

1986: Während Otto Blecker – seit fünf Jahren in Rente – seinen siebten Passat Variant fährt (Neuwagen Nummer 37), erleidet der tapfere Käfer in Schweinfurt einen schweren Heckschaden. Zeit für einen Nachfolger, meinen Mutter und Sohn Schmitt. Nach langen Verhandlungen des Familienrats bestellt Vater Hans widerwillig einen Golf. Doch die selbstverständliche Entsorgung des Unfall-Oldies findet nicht statt – diese Bedingung hatten Schmitts Mitentscheider schlicht vergessen. Der Tüftler, der schon in den Sechzigern aus einem Waschmaschinenmotor einen Garagentorantrieb bastelte, stellt den Käfer wieder her. Und behält ihn. Bis heute ist er im Einsatz – meist bei Lastesel-Jobs, für die der "neue" Golf zu schade ist.

Wie viele Autos braucht der Mensch also? Eins, sofern es hält. Sagt Hans Schmitt. Er hat bestimmt noch einige Kraftfahrer-Lenze vor sich, aber ein neues Fahrzeug kommt ihm nicht ins Haus. Warum auch?

Und was sagt Otto Blecker? Er lässt die Zahl offen. Hauptsache, er muss kein Öl nachfüllen. Das nämlich hat er in 50 Jahren nicht ein einziges Mal getan. Womit er in Zukunft unterwegs sein wird, weiß er noch nicht. Der Abgabetermin des aktuellen Golf Variant steht indes schon fest: der 13. März 2003. Dann folgt die Nummer 62.